Erwachet!: Fläzen vs. Flexen

Nr. 19 –

Michelle Steinbeck versöhnt sich beinahe mit der Realität

«Die heutige Zeit ist eine von den Perioden, in denen alles, was dem Leben normalerweise einen Sinn zu verleihen scheint, verloren geht und in denen wir, um nicht in Verzweiflung oder Bewusstlosigkeit zu verfallen, alles infrage stellen müssen.»

So beginnt Simone Weil 1934 ihren Aufsatz, den ich für das montägliche Seminar lese. Es ist Sonntag, ich fläze mich auf einer Bank bei der Basler Kaserne, am Rand des 1.-Mai-Fests. Mein Neujahrsvorsatz, weniger zu arbeiten, macht sich langsam bemerkbar: Eine unruhige Mattigkeit hat von mir Besitz ergriffen. Es fällt mir schwer zu entscheiden, ob ich einfach weniger gestresst oder nur faul bin. Und wäre es so schlimm, faul zu sein?

«Man braucht ja nur eine Zeitung aufzumachen, und es kommt einem idiotisch vor, dass man überhaupt noch schreibt. Man muss diesen Gedanken und das Wissen um den Zusammenbruch einer Welt, das Wissen um kommende Sintflut, Krieg usw. verdrängen, wenn man schreiben will. Dazu braucht man Alkohol. Es kommt dabei nur darauf an, gut und weise zu trinken.» Das schreibt Irmgard Keun 1936 aus dem Exil.

Ich bin in meiner Stadt, die frühlingshaft blüht, im privilegierten Versuch, die zwinglianische, pandemisch noch akzelerationierte Arbeitssucht aus meinem Organismus zu treiben – und dabei nicht zu viel (oder wenigstens gut und weise) zu trinken. Und doch kann ich beiden Autorinnen zustimmen. Das Flexen mit Atomraketen hat die drohende Apokalypse, die uns ja schon lange umzingelt, ruckartig nähergebracht. Mir kommt es seltsam vor, dass die Kioske nicht voller Überschriften sind wie: «Carpe diem! Was haben Sie noch vor, bevor die Welt in Atompilzen aufgeht?»

Fast sehnen wir uns nach der Zeit zurück, in der uns Prognosen für 2050 beunruhigten. Obwohl, daran können wir uns festhalten: Wenn wirs bis dahin schaffen, sterben wir spätestens dann aus. Das Plastik in unseren Körpern wird sie unfruchtbar gemacht haben. Das löst immerhin das Problem der immer grösseren Babyköpfe, die je länger je mehr eine natürliche Geburt durchs Becken verunmöglichen. Was will uns die Evolution damit sagen?

Simone Weil hinterfragt derweil das Zauberwort Revolution – und das am 1. Mai! Kurz schiele ich zum Stand des «Funken»: Muss ich hier nicht nur meinen verräterisch modischen Sonnenhut, sondern auch meine Lektüre verstecken? «Revolution ist ein Wort, für das getötet wird, für das gestorben wird, […] das aber keinen Inhalt hat.» Simone Weil argumentiert, dass es in einer Gesellschaft für das Individuum immer Einschränkung und Zwang geben wird. Worauf es ankommt, sei vielmehr das Herausfinden, ob eine andere Organisation der Produktion denkbar wäre. Eine, in der diese zwangsläufige Unterdrückung nicht «Körper und Seelen vernichtet».

Weil schliesst das Kapitel mit dem stoischen Satz: «Wenn uns klar wird, dass eine solche Produktionsweise nicht einmal denkbar ist, können wir uns wenigstens zu Recht mit der Unterdrückung abfinden und müssen uns nicht mehr verantwortlich fühlen, weil wir nichts tun, um sie zu verhindern.»

Während dieser Schluss mich etwas ratlos neben dem 1.-Mai-Fest zurücklässt, erinnert er den Professor im Seminar tags darauf an Hannah Arendt: Versöhnung mit der Realität. Neben mir trägt ein Kommilitone kurze Hosen und Flipflops. Ich denke: Es ist Mai, Zeit für nackte Füsse.

Michelle Steinbeck ist Langzeitstudentin alla bolognese und aufstrebende Zeitmillionärin.