Fotopioniere: Inspiration für Beyoncé

Nr. 19 –

Fotografien mit kolonialem Blick gibt es unzählige. Eine Ausstellung im Museum Rietberg zeigt nun die faszinierenden Bilder früher afrikanischer Fotografen.

Jenseits des kolonialen Blicks: «Chief mit Würdestab, Kreuz und Korallenschmuck», Nigeria um 1900, und «Porträt einer Frau mit modischer Frisur», Nigeria um 1890. Fotos: Museum Rietberg

Nirgendwo im Globalen Süden sei die Fotografie so enthusiastisch aufgenommen worden wie an der Küste West- und Zentralafrikas, heisst es im Begleittext zur Ausstellung «The Future Is Blinking» im Museum Rietberg. Und dies nur zwanzig Jahre nachdem das neue Medium 1839 in Paris vorgestellt worden war. Die afrikanische Fotografie, genauer die ersten Afrikaner, die als Fotografen arbeiteten, stehen denn auch im Zentrum des Interesses der Kuratorin Nanina Guyer. Wobei sie hier gern auch die weibliche Form gesehen hätte, doch die Forschung hat bisher keine frühen Fotografinnen ausfindig machen können.

Clevere Pioniere

Die afrikanischen Fotopioniere waren junge Männer aus den Eliten der west- und zentralafrikanischen Küstenstädte, die ihr kulturelles Interesse an den gestalterischen Möglichkeiten des neuen Mediums mit Geschäftssinn verbanden. Rund dreissig von ihnen konnten bisher identifiziert werden, es waren aber wohl noch einige mehr. Sie reisten ohne Unterlass als Wanderfotografen der westafrikanischen Küste entlang bis Luanda, waren gut mit den europäischen Metropolen vernetzt und vermochten sich so die notwendigen und ständig weiterentwickelten Fotoausrüstungen und -materialien zu beschaffen.

Da ihr afrikanischer Kundenkreis noch beschränkt war, suchten sie auch europäische Kund:innen zu bedienen. Dadurch gerieten sie ins Spannungsfeld der Fotografie der europäischen Kolonialmächte, die mit ihrer Sicht- und Darstellungsweise afrikanischer Gegebenheiten und Menschen einen kulturellen Überlegenheitsanspruch zum Ausdruck bringen wollten. Fotos aus Afrika mit «kolonialem Blick» gibt es denn auch unzählige, sie sind aber in der Ausstellung nur vereinzelt vertreten.

Ein besonderes und berühmt gewordenes Foto aus diesem Spannungsfeld zeigt Ovonramwen Nogbaisi, den König von Benin, als Gefangenen der Briten, bar jeglichen königlichen Machtschmucks, dafür mit einer rohen Eisenkette um den Hals, auf dem Weg ins Exil. Die britische Armee hatte 1897 das Königreich Benin überrannt, den Palast niedergebrannt und mehrere Tausend Objekte des Palastschatzes – darunter die berühmten «Benin-Bronzen» – geraubt. Die Fotografie sollte die Unterwerfung des afrikanischen Potentaten dokumentieren, was allerdings nicht gelang. Mit einem merkwürdigen Lächeln bewies der König, dass sein Stolz keineswegs gebrochen war. Was sicher auch damit zusammenhing, dass hier der erste nigerianische Berufsfotograf Jonathan Adagogo Green hinter der Kamera stand.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand dank der immer beliebteren Bildpostkarten ein florierendes Geschäft zwischen Afrika und Europa. Postkarten sind es denn auch hauptsächlich, die uns heute den Einblick in das fotografische Schaffen der westafrikanischen Pioniere ermöglichen. Ein grosser Teil davon ist in Europa und Amerika zu finden, und lange hielt man ihre Autoren für Europäer. Jüngere Forschung hat jetzt die afrikanischen Urheber eruieren können.

Eine spezielle Sammlung solcher Postkarten hat die Rietberg-Ausstellung überhaupt erst ermöglicht. Die deutsch-amerikanische Ethnologin und Fotohistorikerin Christraud M. Geary hatte rund 5000 Landschaftsbilder und Porträts aus Afrika von 1880 bis 1990 gesammelt. Das Museum Rietberg konnte sie erwerben und zeigt in dieser ersten Ausstellung rund hundert Porträtaufnahmen, fast alle in Originalabzügen.

Das wichtigste Foto

Somit kann die Entdeckungsreise in die Welten der kleinformatigen Zeugnisse des frühen afrikanischen Fotografieschaffens beginnen. Die meisten Aufnahmen entstanden entweder im mobilen Freiluftstudio oder im Atelier. Sie sind aufwendig und bewusst inszeniert. Pose, Gesichtsausdruck, Geste, Kleidung, Schmuck, Accessoires, Hintergrund – alles spielt eine Rolle, entspricht kulturellen Gegebenheiten des jeweiligen Ortes zu jener Zeit und sagt etwas über die abgebildeten Personen aus und wie sie sich dargestellt sehen wollten – und natürlich auch über die Fotografen und darüber, wie sie die Porträtierten zeigen wollten.

So galten etwa die Frauenporträts vor oder nach der Initiation, also der gesellschaftlichen Anerkennung als Frau, als wichtigstes Foto im Leben. Diese Porträts wurden mit höchster Sorgfalt produziert – und auch idealisiert. Die Art des Stoffes wiederum, der als Hintergrund drapiert wurde, gibt Auskunft über die gesellschaftliche Stellung der Abgebildeten. Dies alles heute richtig zu interpretieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Trotz der sehr umsichtigen Einrichtung und Textbegleitung der Ausstellung durch die Kuratorin Guyer bleibt die eine oder andere Frage offen.

Besondere Einblicke gewährt Guyers «Bildanalyse»: Fotos werden zusammen mit Objekten afrikanischer Bildhauerei und Kunst gezeigt, wodurch deren Einfluss auf die fotografische Gestaltung erkennbar wird. Spannend ist auch die Gegenüberstellung von neuzeitlichen Arbeiten des US-Fotografen Tyler Mitchell, der die Ästhetik der historischen Studiofotografie in Westafrika für Porträts etwa des Popstars Beyoncé oder der US-Vizepräsidentin Kamala Harris bewusst übernimmt. Oder der Blick in private Fotosammlungen von Afrikaner:innen heute.

«The Future Is Blinking. Frühe Studiofotografie aus West- und Zentralafrika» ist noch bis am 3. Juli 2022 im Museum Rietberg in Zürich zu sehen. Ausserdem werden im Rieterpark neun grossformatige Serien zeitgenössischer afrikanischer Fotografie, prämiert mit dem CAP Prize, präsentiert. www.rietberg.ch