Kulturraub: Antworten finden auf altes Unrecht

Nr. 50 –

In den Museen des Globalen Nordens steht weiterhin viel koloniale Raubkunst, die Debatten laufen heiss. Ein Film und zwei Ausstellungen bieten Perspektiven für einen künftigen Umgang.

Gedenkkopf von Oba Osemwende aus dem Königreich Benin
Ein Schatz, verstreut über die halbe Welt: Die Benin-Bronzen gehören zu den bekanntesten kolonialen Raubgütern. Gedenkkopf von Oba Osemwende aus dem Königreich Benin, nach 1848. Foto: Rainer Wolfsberger, © Museum Rietberg

Der preisgekrönte Film über die Rückgabe von kolonialem Raubgut beginnt – etwas überraschend – mit einem Haufen von Eiffeltürmen aus Plastik. Der farbig leuchtende Souvenirschrott wirft uns mitten hinein in die Frage, was Kulturgut ist und was daraus werden kann. Mit diesen programmatisch an den Anfang gestellten, wie Alarmlampen blinkenden Türmchen nimmt Mati Diop in ihrem Film «Dahomey» auch die Pariser Weltausstellung von 1889 ins Visier, für die der Originaleiffelturm einst eigens gebaut wurde. Diese «exposition universelle» ist heute nicht nur für Gustave Eiffels Ingenieurskunst bekannt, sondern auch berüchtigt für eine entwürdigende Völkerschau, die selbstherrliche Inszenierung einer europäischen Kolonialmacht des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Es ist eine Stärke von «Dahomey», dass Diops Film sich mit solchen expliziten Erklärungen weitgehend zurückhält, zugleich aber mit seinen oft stummen Bildern den Raum für eigene Gedankengänge öffnet. Auch eine unmissverständliche Schlussfolgerung lässt Diop zu: Eine Gesellschaft, die durch Krieg und Raubzüge fast ihr gesamtes materielles Kulturgut verliert, verändert sich grundlegend und unwiderruflich. Die kulturelle Lücke, die hier gerissen wurde, ist auch durch eine spätere Rückgabe des Gestohlenen nicht wiedergutzumachen (was selbstverständlich nicht bedeutet, dass man sie nicht retournieren soll).

Brandmale kolonialer Kriege

26 von rund 7000 geraubten Artefakten aus dem einstigen Beniner Königreich Dahomey wurden 2021 aus dem Pariser Museum Quai Branly ins Palastmuseum von Cotonou (im heutigen Benin) zurückgegeben, nach zähen Verhandlungen und Restitutionsforderungen, die oft Jahrzehnte zurückreichen. Von dieser Rückkehr und dem zuerst begeisterten, später auch skeptischen Empfang vor Ort handelt Diops gut einstündiger Film. In einer mitreissenden Schlussszene verfolgen wir einen öffentlichen Widerstreit über diese Rückgabe eines winzigen Teils des lokalen Kulturerbes. Beniner Student:innen diskutieren etwa darüber, was es bedeutet, mit «Avatar» und Disney aufzuwachsen, aber ohne die Figuren der eigenen Geschichte.

Wer sich am da und dort aufblitzenden Pathos stört, darf sich kurz vorstellen, die übermächtigen Armeen des Königreichs Dahomey hätten einst Paris überfallen und würden stolz in einem Museum die aus dem Louvre geraubte «Mona Lisa» präsentieren – dazu die «Venus von Milo» und vielleicht eine herausgebrochene Skulptur aus der Notre-Dame. Auf dem weissen Stein wären die Spuren von Krieg und Zerstörung noch klar zu erkennen.

Schwarze Brandmale trägt auch ein kunstfertig verzierter Elfenbeinzahn, der gegenwärtig im Zürcher Völkerkundemuseum ausgestellt ist. Es sind die physischen Spuren des kriegerischen Überfalls britischer Kolonialtruppen auf den einstigen Handelspartner. 1897 wurden viele Artefakte aus dem royalen Palast von Benin (im heutigen Nigeria) geplündert. Sie gehören unter dem Sammelbegriff «Benin-Bronzen» zu den weltweit bekanntesten kolonialen Raubgütern. Der Schatz ist über die halbe Welt verstreut. Verschiedene Bemühungen sind im Gang, die nach Lösungen für das alte Unrecht suchen – und nach einer Zukunft für die in Museen des Globalen Nordens eingelagerten Objekte.

Ein wegweisendes Projekt wurde 2021 auch von den acht Schweizer Museen initiiert, die Benin-Bronzen in ihren Sammlungen haben. Die Benin Initiative Schweiz (BIS) versteht sich primär als Forschungs- und nicht als Restitutionsprojekt, sie wird vom Bundesamt für Kultur unterstützt, die Federführung hat das Museum Rietberg in Zürich. Das Forschungsteam ist breit aufgestellt, mit zahlreichen Expert:innen aus Nigeria. Und man ist auch mit allen möglichen Stakeholdern im Gespräch: mit der nigerianischen Commission for Museums and Monuments, mit Regierungsvertreter:innen, mit dem Königshaus der Oba, deren Vorfahr:innen 1897 beraubt wurden, mit Nachfahr:innen von Versklavten. Der Stand der Forschung wird regelmässig mit Berichten und Ausstellungen öffentlich zugänglich gemacht.

Aktuell etwa in der erwähnten Schau im Völkerkundemuseum, die nicht nur mit einer Ausstellung im Museum Rietberg verknüpft ist, sondern auch gut zu Mati Diops Film «Dahomey» passt. Es geht um die Objekte und ihre Geschichte und um die Wege, auf denen sie in die Schweizer Sammlungen gelangt sind. Umkreist wird aber vor allem auch die Frage: Was bedeuten diese Benin-Bronzen für die heutigen Bewohner:innen von Nigeria und Benin?

Alte und neue Bedeutungen

Die Kolonialmächte haben Menschen getötet, enteignet und versklavt, sie haben wertvolle Artefakte geraubt und zweckentfremdet. Dabei wurde auch die selbstbestimmte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gewaltsam gekappt, die Deutungshoheit ging als Beuteteil an die europäischen Sieger. Diese Geschichte muss rekonstruiert und zurückerobert werden. Im Museum Rietberg geschieht das unter anderem, indem ein nigerianisch-schweizerisches Kuratorinnenteam mit einer fraktalen Ausstellungsarchitektur arbeitet: Die Stellwände und die Vitrinen sind gefaltet aneinandergereiht und im Raum angeordnet wie der Innenhof des Palasts von Benin – die typische europäische Museumsschau erweitert zum Prisma, einzelne Ansichten fügen sich nur aus einem bestimmten Blickwinkel zusammen.

Im Völkerkundemuseum wiederum erfährt man: Es gibt auch in afrikanischen Ländern einen Überdruss am (post)kolonialen Narrativ. Man will die eigene Geschichte nicht immer und nicht ausschliesslich unter den negativen Zeichen von kolonialer Besatzung und Gewalt sehen. Zugleich lässt sich diese Zäsur natürlich nie ganz ausblenden. Jüngst schaltete sich die Restitution Study Group in die Debatte ein. Die aktivistische Vereinigung der Nachfahren von Versklavten fordert die Museen in der USA und in Europa auf, die Objekte auf keinen Fall zurückzugeben, damit sie für die in der Diaspora Verstreuten zugänglich blieben.

So vervielfältigen sich die Meinungen und die Perspektiven – und die alten Objekte werden mit immer neuen semantischen Schichten ummantelt. Ihre ursprüngliche Bedeutung und Rolle mag rituell und spirituell gewesen sein. Heute bergen sie als Kunstwerke eine eigenwillige Aura aus gespeicherter Geschichte und faszinierender Unergründlichkeit, werden aber auch zu Projektionsflächen von ideologischen Interventionen.

«Der Status der Benin-Bronzen war und ist also weder in Europa noch im heutigen Nigeria eindeutig, sie sind gleichzeitig Kunst und Kulturerbe, Geschichtsbücher und Repräsentationen von Ahnen, Museumsobjekte und Beute.» So argumentierte die Historikerin Gesine Krüger vor mehr als einem Jahr in einem weitsichtigen Beitrag auf der Plattform «Geschichte der Gegenwart». Die Benin Initiative Schweiz und die aktuellen Ausstellungen versuchen, diese Sichtweisen zu einem möglichst beweglichen Gesamtbild zu verweben.

Der König ist verwirrt

Wer alles vorschnell auf die Frage einer Rückgabe (oder ihrer Verweigerung) reduziert, verstellt den Blick auf Wesentlicheres. Nüchtern betrachtet, sind die Bronzen vor allem ein reichhaltiges Forschungsfeld. Gerade auch, weil sich in ihnen unterschiedliche Unrechtskontexte überlagern: der Sklav:innenhandel, an dem auch das Königshaus von Benin beteiligt war, und die kolonialen Kriege, Massaker und Raubzüge. Dies führt zu teils absurden Kontroversen, wenn Nachfahr:innen aus den Kolonialmächten heute einwerfen, die Bronzen dürften nicht an das Beniner Königshaus retourniert werden, weil deren Vorfahren einst auch Sklav:innenhändler gewesen seien.

Eine Verknüpfung der eigenen Identität mit diesen materiellen Objekten bleibt eine zwiespältige Angelegenheit. Mati Diop illustriert dies mit der studentischen Debatte, aber auch viel direkter, indem sie einer Königsstatue im Film eine Stimme gibt. König Gezo erzählt von seiner Rückkehr in eine ihm fremd gewordene Heimat als ambivalente, verwirrende Erfahrung. Er wirkt in mancherlei Hinsicht aus der Zeit gefallen, irritiert.

Damit ist zumindest angedeutet, dass auch eine afrozentrische Erzählung und Perspektive nicht der Weisheit letzter Schluss sein können. Aber sie ist alleweil ein notwendiger Schritt der Wiederaneignung.

«Dahomey». Regie: Mati Diop. Benin/ Frankreich/Senegal 2024. Jetzt im Kino.

«Benin verpflichtet. Wie mit geraubten Königsschätzen umgehen?» in: Zürich, Völkerkundemuseum, bis 25. September 2025. www.musethno.uzh.ch

«Im Dialog mit Benin: Kunst, Kolonialismus und Restitution» in: Zürich, Museum Rietberg, bis 16. Februar 2025. www.rietberg.ch Ausstellungskatalog: «In Bewegung. Kulturerbe aus Benin in Schweizer Museen», Verlag Scheidegger & Spiess.