Joanna Hogg: «Das Chaos geniesse ich jedes Mal»
Blick zurück nach vorn: Die Filme von Joanna Hogg entziehen sich jedem Vergleich. Jetzt ist ihr Werk gleich in mehreren Schweizer Programmkinos zu entdecken.

WOZ: Joanna Hogg, ein Spielfilm mit Schauspieler:innen, grosser Crew und anständiger Finanzierung kann ja nie wahrhaftig autobiografisch sein. Trotzdem halte ich Ihr zweiteiliges Werk «The Souvenir» für eine der gelungensten filmischen Autobiografien überhaupt.
Joanna Hogg: Das ist sehr nett. Es ist tatsächlich unmöglich, einen Film zu machen, der vollständig autobiografisch ist. Während der Entstehung passieren so viele Interventionen. Dazu kommt, dass die eigene Erinnerung ungenau ist. Das Werk selbst wird davon zwar nicht beeinträchtigt, aber man muss offen bleiben gegenüber allen möglichen Interpretationen. Ihre Frage erinnert mich auch daran, wie ich immer wieder enttäuscht bin, dass die Arbeit allein nie genügt und man auch noch darüber reden muss.
Wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Man hört, Ihre Drehbücher entsprächen nicht ganz der Norm.
Ich brauche sehr viel Zeit, um ein Drehbuch zu schreiben, das am Ende dann vielleicht bloss dreissig Seiten lang ist. Die Zeit nehme ich mir nicht, um Worte auf die Seite zu schreiben, sondern um nachzudenken, um Ideen zu erkunden. Bei «The Souvenir» habe ich lange meine eigene Vergangenheit betrachtet – also meine alten Tagebücher, Notizbücher und vor allem Fotos. Das fühlte sich wie Archivarbeit an. Auch wenn das fertige Dokument nach fast nichts aussieht, stecken da Monate oder sogar Jahre an Arbeit drin.
Nur dreissig Seiten pro Film? Normalerweise rechnet man doch etwa eine Drehbuchseite pro Filmminute.
Es sind sogar noch weniger, wenn man bedenkt, dass auch Fotos darin sind. Beim ersten Teil von «The Souvenir» habe ich viele Polaroidaufnahmen verwendet, die ich selbst in den achtziger Jahren aufgenommen hatte. Das Dokument ist also einerseits sehr greifbar, andererseits aber auch nicht allzu dicht. Ich nehme es während des Drehs jeweils in die Hände, um mich an meine Gedankengänge zu erinnern. Es ist nicht unbedingt für mein Team gedacht.
Und Dialogzeilen für die Schauspieler:innen?
Die gibt es schon, aber eher so wie in einem Roman. Es bekommen auch nicht alle vom Filmteam das Buch zu sehen. Manche Schauspieler:innen kennen vor dem Dreh nicht einmal die Handlung. «The Souvenir» haben wir in chronologischer Abfolge gedreht, und Honor Swinton Byrne, die die Filmstudentin Julie spielt, wusste nicht, wie sich ihre Story entwickeln würde.
Die Schauspielerin hat also die Geschichte der – autobiografisch angehauchten – Hauptfigur Julie quasi zusammen mit dieser erfahren?
Genau. Tom Burke hingegen, der Julies heroinabhängigen Freund spielt, wusste alles – was ja auch den unterschiedlichen Wissensstand der beiden widerspiegelt. Honor und Tom haben sich auch erst dann zum ersten Mal getroffen, als wir die Szene mit der Party drehten, auf der sich die beiden im Film kennenlernen.
Welche Absicht steht da dahinter?
Ich habe keine fixe Methode, oder sie ändert sich von Szene zu Szene und ist auch sehr von den Schauspieler:innen abhängig. In der Regel weiss ich zwar, wohin ich will, bin dann aber vor allem daran interessiert, was unterwegs passiert. Beim Dreh entstehen Ideen, an die ich zuvor nicht gedacht hätte. Das finde ich fast das Spannendste beim Filmemachen: jenen offenen Raum, bei dem man nie genau weiss, was passieren wird.
Hierzulande fragt sich wohl manche:r Schweizer Filmemacher:in ganz neidisch, wie man mit einem solchen Drehbuch eine Finanzierung bekommt.
(Lacht.) Ich habe tatsächlich immer Angst, dass irgendwann jemand sagt: So, jetzt ist fertig! Ich halte das jedenfalls nicht für selbstverständlich. Aber vor allem meine früheren Filme hatten ja sehr kleine Budgets, und ich beherrschte das Handwerk von meiner Arbeit beim Fernsehen her. Vielleicht gibt es eine obere Grenze, bis zu der man das Budget mit dieser Arbeitsweise dehnen kann, aber ich scheine sie glücklicherweise noch nicht erreicht zu haben.
In Ihrem Film «Archipelago» sagt der Landschaftsmaler, dass er das Chaos brauche, um seine Ideen entstehen zu lassen. Ist das bei Ihnen ähnlich?
Das Chaos ist das, was ich wirklich jedes Mal geniesse, wenn wir eine neue Szene in Angriff nehmen. Bei der Partyszene in «The Souvenir» war der erste Versuch noch extrem chaotisch, voller Fehler. Wenn diese in den weiteren Takes dann korrigiert werden und alles ein wenig organisierter wird, enthält der Take, mit dem ich am Ende glücklich bin, fast immer noch etwas vom ursprünglichen Chaos.
Wo beginnt denn für Sie der schöpferische Akt, und wo endet er?
Ich denke oft darüber nach, und ich glaube nicht, dass das einfach auf natürliche Weise geschieht. Wenn wir uns hier so unterhalten, habe ich stets die Angst im Hinterkopf, dass ich, wenn ich zu viel über diese Prozesse nachdenke, zu selbstreflektiert werde. Aber einfach nur Filme zu machen, ohne dann darüber sprechen, schiene mir auch unangebracht gegenüber all jenen, die sich die Mühe machen, meine Filme zu schauen und darüber nachzudenken.
Sie schauen sich Ihre alten Filme nicht an?
Wenn ich die knappe Zeit zwischen meinen Projekten damit ausfülle, quasi mein altes Werk wiederzukäuen, bleibt mir keine Zeit mehr dafür, mich zurückzulehnen und etwas Neues aufzunehmen. Dieses ständige Zurückblicken hat zwar eine eigene Dynamik, aber diese inspiriert mich nicht. Was mir beim Filmemachen so gefällt, ist die konstante Vorwärtsbewegung.
«The Souvenir» ist aber auch, wie der Titel schon sagt, ein Blick in die eigene Vergangenheit. Ist das kein Widerspruch?
Das mag vielleicht so erscheinen, aber dieser Blick in die Vergangenheit ist in gewisser Weise auch nach vorne gerichtet – weil er neue Prozesse und Gedanken anstösst. Im Gegensatz dazu fühlt sich dieses Kreisen um den Film in der Promotionsphase für mich fast selbstverzehrend an. Ich will nicht sagen, dass mich das gar nicht mehr interessiert. Es betrifft mich einfach nicht mehr direkt. Ich hatte meine Zeit mit dem Werk und habe es nun abgegeben. Ich glaube, wenn man zu viel über die eigene Kreativität und deren Ursprünge redet, wenn man also plötzlich zu viel davon versteht, droht sich diese Kreativität aufzulösen.
Kann der Prozess, eine Erinnerung zu verfilmen, wie mit «The Souvenir», auch das Wesen dieser Erinnerung verändern?
Ja, auf ziemlich irritierende Weise. Wenn ich zum Beispiel an die Wohnung zurückdenke, in der ich damals gewohnt habe, bin ich nicht sicher, ob ich mich an meine eigene Wohnung erinnere oder an jene, die wir für den Film gebaut haben. Vielleicht ist es gefährlich, etwas aus der eigenen Vergangenheit so zu rekonstruieren. Manche Dinge habe ich zwar für den Film erfunden, und nicht alles basiert auf meiner eigenen Geschichte. Aber selbst da bin ich manchmal unsicher, ob ich das nicht doch selbst erlebt habe. Ich habe jetzt ein verzerrtes Bild meiner Vergangenheit.
Fast alle Ihre Filme, auch «The Souvenir», behandeln immer auch Fragen der sozialen Klasse. Woher kommt dieses Interesse?
Es stimmt, dass ich diese Thematik in meinen Filmen immer wieder berühre, aber ich weiss nicht, ob mich die Frage nach den Klassendifferenzen überhaupt interessiert. Beim Schreiben spielt sie für mich jedenfalls keine Rolle, höchstens bei der Charakterisierung der Figuren. Wenn ich später über die Filme spreche, werde ich immer wieder dazu befragt. Es scheint also etwas zu sein, was dem Publikum auffällt.
Denken Sie, die Kunst kann dabei helfen, diese Klassendifferenzen zu überbrücken?
Ich hoffe es. Aber manchmal, besonders in Grossbritannien, sind die Reaktionen auf mein Werk deswegen beinahe ein bisschen aggressiv. Ich verstehe das.
Bei Julie in «The Souvenir» fällt schon auf, wie privilegiert sie ist. Als die Filmschule sich weigert, ihren Abschlussfilm zu finanzieren, bittet sie einfach ihre Mutter um das Geld.
Im ersten Teil gibt es ja durchaus Figuren, die an ihrer Stellung Kritik üben. Aber ich sehe Julie als jemanden, die sich – wie ich – nicht wirklich für die Frage nach der sozialen Klasse interessiert. Aber ich will mich hier nicht für meine Figuren entschuldigen. Die Filme verschweigen diese Probleme ja nicht und zeigen etwa immer wieder finanzielle Transaktionen. Da im Kino nur selten über Geld gesprochen wird, fand ich das interessant. Und ja, Julie lässt ihre Mutter zwar den Film finanzieren, aber später zahlt sie es auch wieder zurück.
Die Filme von Joanna Hogg sind derzeit in folgenden Programmkinos zu sehen: Bern, Rex; St. Gallen, Kinok; Winterthur, Cameo; Zürich, Xenix. Für das Zürcher Filmpodium hat Joanna Hogg zehn Filme ausgewählt, die sie geprägt haben. In Basel sind ihre «Souvenir»-Filme im Stadtkino zu sehen.
Beinahe soziologisch
Mit bloss fünf Kinofilmen seit 2007 hat die britische Regisseurin Joanna Hogg (62) ein höchst eigenwilliges Werk geschaffen.
Dabei überrascht nicht, dass die Drehorte ihrer Filme stets vor der Besetzung feststehen. Von der toskanischen Villa in ihrem Erstling «Unrelated» über die verschachtelte Künstlerwohnung in «Exhibition» (2013) bis zum London der achtziger Jahre im autobiografischen Zweiteiler «The Souvenir» (2019/2021): Der Ort bestimmt die Form der Kommunikation, die vorzugsweise um Kunst oder um das Verhältnis des Ichs zu Kunst und Gesellschaft kreist.
Auch wenn Hogg, die gerne auf Improvisation und Laiendarsteller:innen zurückgreift, sich vorgeblich nicht gross für solche Fragen interessiert: Ihre sämtlich der oberen britischen Mittelschicht zugehörigen Figuren lassen auch einen präzisen, beinahe soziologischen Blick auf eine Klasse zu, die ihre Herkunft trotz aller Bemühungen nie so richtig abstreifen kann.