Pedro Costa: Von der Wichtigkeit, ernst zu sein
Anspruchsvoll und sperrig – und von einzigartiger Schönheit: Das Zürcher Filmpodium gibt Einblick in das Schaffen des portugiesischen Regisseurs Pedro Costa.
Entscheidend ist wahrscheinlich die Zeit und was es kostet, sie sich zu nehmen. Pedro Costa spricht langsam, seine Stimme klingt traurig, trotz leicht lakonischem Unterton. Jede Antwort, egal ob im Werkstattgespräch im Zürcher Filmpodium, das dem hier kaum bekannten portugiesischen Regisseur eine Retrospektive gewidmet hat, oder im Gespräch mit der WOZ, braucht Zeit.
Costa stellt selber amüsiert fest, dass er und sein Kino eigentlich nicht nach Zürich passen würden. Der Dialog sei schwierig. So etwas wie Schönheit in der Wiederholung oder in der Routine zu finden, das gehe hier kaum: «Es geht stets um ‹mehr, mehr, mehr›. Ich will nicht sagen, dass es ‹weniger, weniger, weniger› bräuchte. Aber ein Bewusstsein dafür, dass alles vergänglich ist? Für das Ende, für den Tod? Das fehlt hier.»
Verzicht und Gewinn
Wer jetzt annimmt, dass Costa und seine Filme deprimierend sind, hätte damit zumindest teilweise unrecht. Es trifft zu, dass die Arbeiten von schwierigen und schmerzerfüllten Biografien erzählen, vom ungerechten Erbe des Kolonialismus an den äussersten Rändern der Gesellschaft. Und dass dabei auf vieles verzichtet wird, was Filme zu einer angenehmen Erfahrung macht: hübsche Schauspieler:innen, spannende Narrative, Humor und Optimismus. Was sie dafür aber enthalten, ist eine besondere, beinahe einzigartige Art der Schönheit. Eine, die nicht nur an Gemälde von Rembrandt oder Caravaggio erinnert, sondern auch an die Gerechtigkeit. «Leuchtende Schatten» lautet denn auch der Titel der Retrospektive.
Der entscheidende Moment in Costas Biografie ist der Bruch, den er anlässlich der Dreharbeiten zu «Casa de lava» (1993), seinem zweiten Film, vollzog. Bei der Arbeit auf den Kapverden, mit achtzigköpfiger Crew und Transportflugzeugen, merkte er, dass ihm «diese zerstörerische Maschine, die man einen Filmdreh nennt», vollkommen zuwider ist: «Ich war zu langsam. Auf einem Set ist Zeit Geld. Ich stand unter konstanter Panik und fing an, gegen meinen Film zu rebellieren.» Er zerstörte in buchstäblichem und übertragenem Sinn das Drehbuch und suchte den Kontakt zu den Inselbewohner:innen. «Sie sahen in uns Ausserirdische – und hatten recht. Ich wollte aber kein Ausserirdischer sein.» Der Film wurde fertig, und das nicht einmal besonders schlecht, aber von Bedeutung war etwas anderes: Viele der Kapverdier:innen gaben ihm Nachrichten und Geschenke für Angehörige mit, die in Fontainhas lebten – einem slumartigen Quartier am Rand von Lissabon.
Er begab sich also dorthin, es kam zu Begegnungen und zum Entschluss, den nächsten Film mit den Leuten vor Ort zu drehen. Während der Arbeit an «Ossos» (1997) fiel Costa dann auf, dass sich das Quartier all dem, was einen konventionellen Filmdreh ausmacht, «verweigerte»: Lastwagen, grosse Kameras, künstliches Licht, eine Filmcrew passten weder physisch noch spirituell nach Fontainhas. So stellte er seine Arbeitsweise radikal und endgültig um. Beginnend mit «No Quarto da Vanda» (2000) wird nurmehr mit kleinen Digitalkameras in Zweierequipen und ohne künstliches Licht gedreht. Die Filme entwirft und erarbeitet er über lange Zeit gemeinsam mit den Protagonist:innen, die jeweils sich selber spielen, ohne Drehbuch.
Zwischen Realität und Erinnerung
Was die darauffolgenden Filme – «Juventude em marcha» (2006), «Cavalo dinheiro» (2014) und «Vitalina Varela» (2019) – neben den Protagonist:innen verbindet, ist die auffällige Sorgfalt, die bei der Inszenierung aufgewendet wird. Kadrierung, Lichtsetzung, Schnittrhythmus: Kaum etwas erinnert noch an konventionelle Strategien des Dokumentar- oder Spielfilms. Die Filme, die weder das eine noch das andere sind, orientieren sich an der individuell empfundenen Realität (und deren Grenzen) der Darsteller:innen. Damit ist nicht etwa eine Inszenierung der Armut im Sinne des Naturalismus gemeint, sondern eine aufrichtige Auseinandersetzung mit deren technischen, soziologischen und ökonomischen Limitierungen und Möglichkeiten. Reale und metaphorische Schatten werden zum Leuchten gebracht, eine strenge, einschüchternde Schönheit entsteht. Auch dann, wenn wir uns über zwei Stunden im Zimmer der drogensüchtigen Vanda aufhalten. Oder in jenem Raum zwischen Realität und Erinnerung des Kapverdiers Ventura, der in «Cavalo dinheiro» sowohl seinen von ihm so bezeichneten «Kindern» aus Fontainhas, das mittlerweile von der Stadt demoliert wurde, wie auch den Geistern aus den Kolonialkriegen der portugiesischen Militärdiktatur begegnet.
Das ist so anspruchsvoll und sperrig, wie es klingt, gerade wenn man sich gewohnt ist, von Filmen an der Hand geführt zu werden. Ein grosses Publikum ist für diese Art von Kino aber ohnehin nicht die Absicht, und noch weniger die Realität: «Die Filme sind in erster Linie für die Leute gemacht, mit denen ich zusammenarbeite, sowie deren Angehörige und die Communitys.» Sowieso sei nicht der fertige Film das Wichtigste, sondern die Arbeit daran: regelmässig, gemeinsam, gewissenhaft. Diese sei «kinematografischer wie politischer Natur – und ein Akt der Solidarität». Natürlich könne dabei auch «so etwas wie künstlerischer Wert» entstehen, aber entscheidend seien die Beiträge der Leute, die Echos: «Sie entspringen einem sozialen Impuls oder dem Bedürfnis, sensibel gegenüber dem zu sein, was passiert.»
So entstehen Filme, die sich selber zu genügen scheinen und die nichts von einem wollen. Die sich nicht zu verkaufen versuchen, weil sie ausser den bescheidenen Löhnen für die Beteiligten auch kaum etwas kosten. Was nicht heisst, dass die Finanzierung einfach wäre. «Von Förderstellen höre ich oft, dass es ja kaum Veränderungen oder Innovationen gebe und sogar die Leute dieselben seien. Und ich muss zugeben, dass das mehr oder weniger stimmt.» In «Où gît votre sourire enfoui?» (2001), Costas Porträt über das formal ähnlich rigorose Regiepaar Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, hört man die «schreckliche Geschichte», die Luis Buñuel einst von Nicolas Ray erzählt bekommen habe: dass, wenn man als Filmemacher eine Karriere haben wolle, der kommende Film niemals weniger kosten dürfe als der vorherige. Mit diesem «mehr, mehr, mehr» in einen Austausch zu treten, wenn die eigene Existenz von Routine und Wiederholung bestimmt ist, sei schwierig. Etwa darüber, «wie das Schöne in den kleinen Dingen zu finden ist und wie man im Angesicht des Unendlichen bescheiden bleiben kann».
Entsteht ein Echo?
Straubs und Huillets endlose Diskussionen über die Frage, ob man in dieser Szene eine Viertelsekunde früher oder später schneiden sollte, mögen unzeitgemäss komisch bis befremdlich wirken. Gleichzeitig kann man ihren Filmen wie auch jenen Costas die Ablehnung von Beliebigkeit in jedem Moment ansehen. Jeder Schnitt, jede Pause und jede Bewegung ist von Bedeutung. Costa macht ein Beispiel: «Wenn ich den Satz sage: ‹In Gaza werden Menschen getötet›, dann macht es einen wichtigen Unterschied, ob danach gleich weggeschnitten wird oder ob das Bild gehalten wird. Ob ein Echo oder eine Spannung entsteht.»
Eine Zeit lang habe er die Hoffnung gehegt, dass eine gemeinschaftliche und lokale Art zu arbeiten, wie er sie versucht, in der Welt etwas zum Guten bewegen könne. Aber heute sei er sehr pessimistisch, auch bezüglich der Sinnhaftigkeit des Filmemachens. «Die Bilder aus Gaza bringen mich um. Was gibt es da noch zu sagen? Ausser vielleicht, um mit Brecht zu sprechen, dass da, wo Gewalt herrscht, nur Gewalt hilft.» Immerhin, mag man anfügen, endet das Zitat aus «Die heilige Johanna der Schlachthöfe» so: «Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.»
Pedro Costa: «Leuchtende Schatten». Filmreihe im Filmpodium Zürich, bis am 15. November 2024. www.filmpodium.ch