Machnos Erb:innen: Wiederbelebte Traditionen und kriegsbedingte Kompromisse
Vom Bäuerinnenaufstand zu antiautoritären Gruppen an der ukrainischen Front: Wo steht die anarchistische Bewegung im postsowjetischen Raum? Und wie gelangte sie dorthin?

Grenzenloser Anarchismus: Von dieser utopischen Vorstellung sind anarchistische Bewegungen im postsowjetischen Raum derzeit meilenweit entfernt. Zunehmend undurchlässige nationale Grenzen, ausufernde Repression und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bestimmen längst die Praxis anarchistischen Handelns. Dies gilt insebsondere in jenen Ländern, in denen anarchistische Ideen für relevante Teile politisch aktiver Menschen enge Bezugspunkte darstellen – insofern sie überhaupt noch im Land bleiben können.
Es gab Zeiten, da übernahmen Anarchist:innen in Belarus sogar die Leitung der Grünen Partei. Heute sind viele aufgrund ihres radikalen Widerstands gegen das Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko politische Gefangene. Andere versuchen, weiter zu agieren, möglichst ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch viele Exponent:innen der Bewegung mussten in Polen und Litauen Zuflucht suchen. Erst im Juni fand in Warschau ein Koordinationstreffen anarchistischer Gruppen aus Belarus statt. Neben eigenen Aktivitäten wie einem Podcast über den Krieg beteiligen sich belarusische Anarchist:innen im Ausland auch an Aktionen anderer oppositioneller Strukturen.
Das Minimum am Laufen halten
Russische Anarchist:innen hat es hingegen nach Kriegsbeginn, spätestens aber nach der Ausrufung der Teilmobilmachung im vergangenen September in völlig verschiedene Richtungen verschlagen. Die einen haben Zuflucht in Armenien oder Georgien gefunden, andere sind in Kasachstan oder Kirgistan gestrandet, von wo ihnen zu jedem Zeitpunkt die Ausschaffung nach Russland droht. Nur wenige schafften es in die EU.
Zerstreut in alle Winde, wird nicht nur koordiniertes Handeln erschwert, sondern auch die gemeinsame politische Debatte. So paradox es klingen mag, steht nicht der Krieg gegen die Ukraine als solcher im Fokus, sondern dessen Auswirkungen auf die repressive Verfasstheit des russischen Staates und der Gesellschaft. Für jene, die in Russland geblieben sind, geht es in erster Linie darum, ein Minimum an anarchistischen Projekten am Laufen zu halten – von kleinen sozialen Zentren über Buchverlage bis zu dringend notwendigen Solidaritätsnetzwerken für politische Gefangene – und sich den Anliegen des Staates weitmöglichst zu verweigern.
Aber auch Partisan:innengruppen gibt es, die mit Sabotageakten gegen die Bahninfrastruktur versuchen, die russische Kriegsmaschinerie zu schädigen, oder Rekrutierungsstellen anzünden. Dem Anarchismus fühlen sich allerdings längst nicht alle verbunden, die zu radikalen Mitteln greifen und dafür mittlerweile zu hohen Haftstrafen verurteilt werden. Auch hat sich nur eine sehr überschaubare Anzahl aus Belarus und Russland stammender Angehöriger der anarchistischen Bewegung für den bewaffneten Kampf aufseiten der Ukraine entschieden. Manche von ihnen waren schon vor dem Krieg vor Repressionen in die Ukraine geflohen.
In der von Russland angegriffenen Ukraine stellt sich Anarchist:innen die Frage nach der Haltung zum Krieg und der individuellen Beteiligung daran auf eine komplett andere Weise: Es geht um die Existenz an sich. Zudem war der Krieg seit seiner Anfangsphase im Jahr 2014 nicht nur in den Köpfen präsenter, er bestimmte auch den Alltag. Wie viele andere Menschen aus dem Donbas mussten sich auch die Anarchist:innen aus der Region eine neue Bleibe suchen. Erfahrungen, die die anarchistische Bewegung während und nach den Maidan-Protesten von 2014 sammeln konnte, befähigten sie auch nach der Ausweitung des Angriffskriegs zu humanitärer Hilfe.
Für Kampfeinsätze an der Front gibt es jedoch bei weitem keinen Konsens. Denn der Wunsch, sich dem Krieg gänzlich zu verwehren, und der Unwille, sich in einem mit militärischen Mitteln ausgetragenen Konflikt verwerten zu lassen und sich dem Staat unterzuordnen, sind auch unter ukrainischen Anarchist:innen eine relevante Haltung.
Gruppen wie die Revolutionäre Aktion wiederum stehen für den bewaffneten Kampf und sind darin persönlich involviert. Andere unterstützen ihn mit zivilen Mitteln. Mit einem Dilemma müssen aber auch sie leben: Kritik am ukrainischen Staatsapparat, an dessen repressiven Funktionen und seiner gerade jetzt noch schärfer hervortretenden antisozialen Politik einschliesslich der Beschneidung zahlreicher Rechte tritt fast zwangsläufig in den Hintergrund. Die Realität des Krieges fordert politische Kompromisse – mit dieser kurzen Formel lässt sich in Anlehnung an das historische Vorbild der Bewegung argumentieren, den ukrainischen Anarchisten Nestor Machno.
Eine neue Ordnung durchsetzen
Machnos Name blieb im kollektiven Gedächtnis der Bewegung noch lange erhalten. Denn die Revolutionäre Aufständische Armee der Ukraine, die er während des auf die Russische Revolution 1917 folgenden Bürgerkriegs ins Leben gerufen hatte, kämpfte mit enormer Durchschlagskraft gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Nationalismus. In der Gegend um seine Geburtsstadt Huljajpole versuchten vor über hundert Jahren nach dem Territorialprinzip organisierte Einheiten eine neue Gesellschaftsordnung durchzusetzen. Heute verläuft dort die Frontlinie, entlang derer sich ukrainische Soldat:innen gegen die russischen Streitkräfte zur Wehr setzen.
Aus heutiger Perspektive steht Machno unbestritten als bedeutende historische Figur da, deren Ideen auch während der stalinistischen politischen Säuberungen in den dreissiger Jahren weiterlebten. So setzten sich im Mai 1932 im Gebiet Poltawa 300 Bäuerinnen mit erhobener schwarzer Fahne erfolgreich gegen die staatliche Beschlagnahmung von Getreide zur Wehr. Nestor Machno, längst im Pariser Exil, war Bestandteil ihres Überlebenskampfs.
Machnos Erbe zeigte sich in gewisser Weise auch Jahrzehnte später: Er war eine für den Anarchismus verbindende Figur im russisch- und ukrainischsprachigen Raum. Denn lange Zeit war die Kooperation über neue nationale Grenzen hinweg eine Selbstverständlichkeit. Ein Ausdruck davon war etwa das «No Border Camp» im ukrainischen Uschhorod 2007 – nie haben sich so viele Anarchist:innen aus dem postsowjetischen Raum an einem Ort getroffen.
Eine Art Wiederbelebung anarchistischer Traditionen hatte aber auch zu Sowjetzeiten schon stattgefunden: an der Historischen Fakultät der Pädagogischen Lenin-Universität in Moskau. Dort gründete sich Anfang der achtziger Jahre eine – zunächst in der revolutionären marxistischen Tradition stehende – politische Gruppe, die über den Widerstand gegen die Nomenklatur, die Polizeistrukturen und die Armee philosophierte.
1986 erhielt eines der Mitglieder – ein Vorzeigestudent, der bei der Führung der Jugendorganisation Komsomol hoch angesehen war – für eine Studienarbeit Zugang zu den Schriften des Anarchisten Michail Bakunin. Er begriff auf Anhieb: Nicht Karl Marx, sondern Bakunins Ansatz entsprach den Gedankengängen der Politgruppe. Dass dieser Student, Andrej Isajew, später zum politischen Gegner überlief und eine Karriere als Duma-Abgeordneter und Apparatschik bei der Kremlhauspartei Einiges Russland hinlegte, gehört zu den finsteren Episoden der neueren Geschichte des russischen Anarchismus.
Denkwürdiges Treffen
Jene marxistische Gruppe zerfiel, zurück blieben wenige Männer und noch weniger Frauen, die die Neuentdeckung für sich als Anarchosyndikalismus definierten. Bereits im Sommer 1986 gingen Anarchist:innen zur direkten Aktion über: Sie wehrten sich gegen den Abriss eines historischen Gebäudes im Moskauer Stadtzentrum und organisierten während eines studentischen Arbeitseinsatzes in einer Kolchose einen Streik gegen unzumutbare Bedingungen vor Ort. Mit Erfolg.
1988 gelang es mit der Gründung der Konföderation der Anarchosyndikalisten (KAS), eine Form zu finden, Anarchist:innen in einem grossen Netzwerk zu organisieren. Geschätzt umfasste sie etwa 1200 Mitglieder in sechzig Städten der Sowjetunion, wobei der Schwerpunkt auf Russland und der Ukraine lag. Aus der KAS ging eine ganze Reihe von Abspaltungen und Neugründungen hervor, die Konflikte über den richtigen Ansatz mit sich brachten. Aber der enorm schnelle Zeitenwechsel förderte auch Gemeinsamkeiten zutage. So fand im September 1991 in Moskau ein denkwürdiges Treffen mehrerer anarchistischer Gruppierungen statt, bei dem festgelegt wurde, dass es ab sofort nicht mehr galt, den pseudokommunistischen Sowjetapparat, sondern den Kapitalismus zu bekämpfen.
Es kommt also nicht von ungefähr, dass sich ein guter Teil der in der KAS organisierten Anarchist:innen später in der Gewerkschaftsbewegung wiederfanden. In Sibirien blieb der Anarchosyndikalismus bis in die nuller Jahre hinein ein praktisches Kampfmittel für mehrere Tausend Mitglieder der Sibirischen Konföderation der Arbeit, die 1993 in der Stadt Omsk ins Leben gerufen worden war. Und auch der Kontakt unter Anarchist:innen, insbesondere in der Ukraine und Russland, hatte weiterhin Bestand.
Grosse Zeit der Massencamps
Umweltthemen waren in der anarchistischen Bewegung zunächst vernachlässigt worden – was sich Ende 1990 allerdings mit der Entstehung der «Bewahrer des Regenbogens» änderte. Ermutigt durch den Erfolg von Protesten in der Stadt Tschapajewsk gegen ein geplantes Werk zur Vernichtung chemischer Waffen, verfolgte die Gruppe mit einem Kern von Aktivist:innen aus Russland und der Ukraine zwei Ziele: die anarchistische Bewegung für Umweltthemen zu sensibilisieren und Teilnehmer:innen in der ansonsten eher von gemässigten liberalen Ideen durchsetzten Umweltbewegung für radikal ausgerichtete Protestcamps zu gewinnen. Anfangs ging das Konzept auf, aber spätestens 1996 und 1997, als bei Protesten gegen einen AKW-Bau in Wolgodonsk die Teilnehmer:innen zur Zielscheibe von mit aller Gewalt wütenden Security- und Polizeiangehörigen gerieten, war die Hochzeit der Massencamps vorbei.
Mit Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs 1999 prangerten Anarchist:innen bei Kundgebungen den imperialen Charakter des Krieges an, erst Wochen später folgte ein kleiner Teil der liberalen Öffentlichkeit dem Beispiel. Über Monate regelmässig durchgeführte Aktionen stärkten den Zusammenhalt innerhalb der Bewegung und lockten Leute an, die sich für radikale Theorie und Politikformen interessierten.
Im Nachklang zu den Antikriegsprotesten formierte sich die Gruppe «Autonome Aktion» mit einer anarchokommunistischen Ausrichtung. Für die politische Sozialisierung einer ganzen Generation von Anarchist:innen spielte sie eine entscheidende Rolle, doch innerhalb der Bewegung herrschte oft ein sehr rauer Ton, der den Ideen der deklarierten Basisdemokratie gelinde gesagt zuwiderlief. Eines der Abspaltungsprodukte, die «Volksselbstverteidigung», stand de facto für Machismus und Antifeminismus.
Eine kritische Aufarbeitung des postsowjetischen Anarchismus wäre entsprechend in vielerlei Hinsicht nicht nur wünschenswert, sie ist auch notwendige Voraussetzung für ein Wiederbeleben der transnationalen Traditionen von Nestor Machno.