Adania Shibli: Die Zeit heilt nicht

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Hier ist das Gegenteil von Kriegsberichterstattung. Adania Shibli hat zwölf Jahre an diesem Buch gearbeitet (vgl. Interview ). Das ist ihm auf jeder Seite anzumerken. Shibli schreibt auf Arabisch, sie ist Palästinenserin, wohnt in Ramallah und Berlin. Ihr Roman «Eine Nebensache» spielt in der Wüste Negev, nahe der Grenze zwischen Ägypten und Israel. Die Wüste prägt denn auch die Stimmung. Klare Sätze führen in eine Hitze, die ein Flimmern erzeugt und Juckreiz. Immer wieder jault ein Hund. Der Waschzwang eines israelischen Offiziers, der auf den Trümmern eines zerstörten Dorfes ein Camp aufbauen lässt, überträgt sich. In einer unheimlichen Mischung aus kühler Distanz und Einfühlung folgt die Erzählung diesem Offizier durch wenige Tage. Am 13. August 1949 kommt der erste Teil des Romans zu einem abrupten Schluss. Das ist sein Angelpunkt: Nach einer Gruppenvergewaltigung haben Soldaten ein Mädchen erschossen, das sie in den Dünen aufgegriffen hatten. Sie nannten es nur «das arabische Mädchen».

Im zweiten Teil des Romans macht sich eine palästinensische Frau, die sich sonst gerne in ihre Wohnung zurückzieht, auf den Weg, um Spuren des Mädchens zu finden. Inzwischen herrscht jenes Regime, das die israelische Regierung seit dem Oslo-II-Abkommen installiert hat. Am Rand des Westjordanlands wurde eine Mauer aufgezogen, israelische Siedlungen werden ausgebaut. In unerbittlicher Geduld folgt der Text den bürokratischen Hindernissen, die einen Arbeitsweg begleiten und erst recht die Reise im geliehenen Auto in eine andere Zone. Bewaffnet ruft sich die Bürokratie in Erinnerung. «Wenn zum Beispiel eine Militärpatrouille den Minibus anhält, mit dem ich zu meiner neuen Arbeit fahre, und zur Tür als Erstes eine Gewehrmündung hereinragt, bitte ich den Soldaten stotternd – höchstwahrscheinlich aus Angst –, er möge sein Gewehr doch bitte zur Seite halten, wenn er mich anspricht oder meinen Ausweis verlangt.»

Die Ich-Erzählerin dieses zweiten Teils sagt von sich, dass sie die Kunst, keinen Fehltritt zu begehen, nicht beherrsche. Sie reist in ein Archiv der israelischen Armee und in die Siedlung, die auf den Trümmern jenes Dorfes im Negev errichtet worden ist. Die Art, wie sie ihre innere und äussere Verirrung, die immer auch notwendig wirkt, beobachtet, scheint die Gefahren der Reise für eine Weile zu bannen. Das gibt dem Text phasenweise eine überraschende Leichtigkeit, und doch hinterlässt er tiefe Verstörung. Die Zeit, die nicht heilt, wird spürbar. Wenn in der Wüste wieder ein Hund jault, ist der 13. August 1949, und wir wissen immer noch nicht, wie das Mädchen geheissen hat.

Dieser Roman nimmt eine Notiz aus der Kriegsberichterstattung auf und weitet sie aus, er findet eine Sprache für jene Gewalt, die sich der Menschen bemächtigt, wenn ein Krieg nicht mehr Krieg genannt wird. Wenn Ermordungen und Vertreibung Teil administrativer Vorgänge geworden sind, die international kaum noch Schlagzeilen machen.

Adania Shibli liest an den Solothurner Literaturtagen am Freitag, 27. Mai 2022, um 13 Uhr.

Adania Shibli: Eine Nebensache. Roman. Aus dem Arabischen von Günther Orth. Berenberg Verlag. Berlin 2022. 128 Seiten. 34 Franken