Adania Shibli: Das Buch als Feind

Nr. 42 –

Die palästinensische Autorin Adania Shibli erhielt für ihr Buch «Eine Nebensache» 2023 den LiBeraturpreis. Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 wurde die geplante Preisverleihung im Rahmen der Frankfurter Buchmesse auf unbestimmte Zeit verschoben. Hier die nie gehaltene Preisrede der Autorin.

Bibliothek in Gaza Stadt, 10. Juli 2023
«Dass Bücher ins Visier genommen werden, ist keine neue Praxis, und sie hat eine von Gewalt geprägte Geschichte.» Bibliothek in Gaza Stadt, 10. Juli 2023. Foto: Ali Jadallah, Getty

Das Rauchen mag von Buchmessen verbannt werden, es ist aber nicht zu erwarten, dass Bücher von Buchmessen verbannt werden. Selbst wenn eine Figur in einem auf einer Messe vorgestellten Buch raucht, würde dies nicht zu einem Verbot von rauchenden Figuren in Büchern oder zu einem Verbot dieses bestimmten Buches führen. Dafür gibt es einen schlichten und offensichtlichen Grund: Literatur und Realität sind nicht dasselbe. Fiktion hat ihre ganz besondere Funktionsweise und sollte nach eigenen Kriterien beurteilt werden. Das Rauchen hat im richtigen Leben negative Auswirkungen auf die eigene Gesundheit und auf andere Menschen. Ein Verbot kann verhindern, dass Menschen krank werden. Das Rauchen in einem Buch kann nur im Hinblick auf seine Relevanz für eine Figur und ihre Handlungen in einem Text bewertet werden.

Fiktion und Realität

Im Jahr 1988, als Rauchen noch in vielen Gebäuden erlaubt war, wahrscheinlich sogar auf Buchmessen, berichtete mir mein Lehrer von der Gründung der ersten öffentlichen Bibliothek in meinem Dorf in Palästina/Israel. Kaum hatte ich die Neuigkeit vernommen, eilte ich in den kleinen Raum, in dem die Bibliothek aufgebaut wurde, und bot dem Bibliothekar meine Hilfe beim Beschriften der Bücher und beim Einräumen der Regale an. Ich liebte Bücher und wollte diese Liebe mit anderen teilen.

In demselben Jahr, 1988, erschienen «Die satanischen Verse» von Salman Rushdie. Der Bibliothekar und ich arbeiteten eng zusammen und diskutierten über das Buch und seine Thematik, die einige, darunter auch viele Menschen, die wir kannten, dazu veranlasst hatte, das Buch zu verurteilen. Wir waren uns einig, dass niemand ein Buch beurteilen sollte, ohne es gelesen zu haben, und beschlossen, ein Exemplar für die Bibliothek anzuschaffen. Nach der Lektüre fand es der Bibliothekar, der Mitte zwanzig war, interessant. Ich, als Vierzehnjährige mit einer Vorliebe für die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, fand es uninteressant. Doch wir beide beurteilten das Buch nach seinen literarischen Qualitäten und nicht nach den Kriterien der Realität, in der wir lebten, noch nach einem bestimmten System spiritueller oder ideologischer Glaubenssätze.

Autorin, Kuratorin, Forscherin

Adania Shibli wurde 1974 in Palästina geboren. Sie schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays, ausserdem ist sie in der akademischen Forschung und Lehre tätig.

Shibli war Writer in Residence am Literaturhaus Zürich sowie Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessorin für Weltliteratur an der Universität Bern. Sie lebt in Deutschland und Palästina und ist zurzeit Mitkuratorin der internationalen Kunsttriennale Bergen Assembly.

 

Portraitfoto von Adania Shibli
Foto: Wiktoria Bosc

Ein paar Monate später entdeckte jemand «Die satanischen Verse» in unserem Regal, und das Buch wurde daraufhin vom Bibliothekar selber entfernt. Als Grund gab er an, eine Gegenreaktion und eine noch grössere Kontroverse zu befürchten, die der Bibliothek schaden könnte. Ihm war es wichtig, dass sie für alle offen blieb und mit ihren vielen anderen Büchern eine breite Leser:innenschaft ansprach. Ich war anderer Meinung, und so schwand meine Leidenschaft für die Bibliothek.

Die Vermischung von Fiktion und gelebter Realität kann gefährlich sein. Salman Rushdie wurde vor zwei Jahren bei einem öffentlichen Vortrag angegriffen, einige seiner Übersetzer und Verleger waren in der Vergangenheit bereits angegriffen worden. Wir wurden erneut Zeug:innen der Gefahr, die von der Verknüpfung von Fiktion und Realität ausgeht.

Dass Bücher ins Visier genommen werden, ist keine neue Praxis, und sie hat eine von Gewalt geprägte Geschichte. Es heisst, dass die Soldaten von Hulagu Khan, als sie 1258 Bagdad eroberten, Zehntausende Bücher in den Tigris warfen, wodurch das Wasser von der darin aufgelösten Tinte schwarz wurde. In Deutschland wurden 1933 Bücher nicht nur verboten, sondern verbrannt, wodurch die Worte in Rauch aufgingen.

Abschiedsbrief an Bücher

Zurück nach Palästina, allerdings nicht ins Jahr 1988, sondern ins Jahr 1948. Als zionistische Milizen palästinensische Städte überfielen, wurden sie von Buchsachverständigen begleitet, die für Institutionen wie die Jüdische National- und Universitätsbibliothek (später in Israelische Nationalbibliothek umbenannt) arbeiteten. Diese Expert:innen plünderten gezielt private palästinensische Haushalte und stahlen dort Bücher.

Khalil al-Sakakini, ein palästinensischer Denker, Schriftsteller und Dichter, war einer von vielen, deren Bibliotheken geplündert wurden. Sakakini war gezwungen, am 30. April 1948 aus Jerusalem zu fliehen, nur wenige Stunden bevor Mitglieder der Hagana- und Palmach-Milizen das Viertel Katamon, in dem er lebte, besetzten. Er schaffte es nur noch, ein paar Habseligkeiten einzupacken, bevor er sich in Sicherheit brachte. In einem Tagebucheintrag von diesem Tag schreibt er: «Wir packten ein paar Kleidungsstücke, die wir brauchten, in die Koffer, und liessen den Rest zurück […], für unsere Rückkehr. […] Wir liessen das Haus, die Kleidung, die Möbel, die Bibliothek, das Essen und das riesige Klavier zurück. Lebe wohl, geliebtes Haus! Lebe wohl, meine Bibliothek; Lebe wohl, Haus der Weisheit, Halle der Philosophen, Institut der Wissenschaften, Sitz des Literaturausschusses. Wie viele schlaf‌lose Nächte habe ich in dir verbracht, lesend und schreibend.»

Während der Jahre des erzwungenen Exils in Ägypten quälte Sakakini vor allem der Verlust seiner Bücher. Bibliotheken wie die von Sakakini enthielten viele Bücher, die nicht massenhaft produziert wurden oder im kommerziellen Handel erhältlich waren. Sie bestanden grösstenteils aus wissenschaftlichen Werken in arabischer Sprache, von denen heute viele rar oder vergriffen sind.

Keine Preisverleihung

Plötzlich ging alles sehr schnell: Nur drei Tage nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 begann in Deutschland eine öffentliche Schlammschlacht gegen die palästinensische Autorin Adania Shibli. Ihrem Buch «Eine Nebensache», das unter anderem von israelischen Soldaten erzählt, die 1949 ein Beduinenmädchen vergewaltigten, wurde zu Unrecht Antisemitismus vorgeworfen (siehe WOZ Nr. 42/23). Bis dahin war das Buch sowohl von der deutsch- wie auch der englischsprachigen Presse hoch gelobt worden und war für mehrere Preise nominiert, unter anderem 2021 für den renommierten Booker Prize.

Im Rahmen der letztjährigen Buchmesse hätte Shibli den LiBeratur-Preis, mit dem ihr Buch ausgezeichnet wurde, entgegennehmen sollen. Die geplante Preisverleihung wurde jedoch kurzfristig und ohne Rücksprache mit der Autorin auf unbestimmte Zeit verschoben. In einem offenen Brief übten daraufhin rund 1500 Autor:innen (darunter mehrere Literaturnobelpreisträger:innen) und Menschen aus der Literaturbranche Kritik an dieser Absage.

Die Preisverleihung hat bis heute nicht stattgefunden. Die hier erstmals auf Deutsch gedruckte Rede hat Shibli vor dem 7. Oktober 2023 geschrieben – und nie gehalten.

 

Am 11. Oktober 1948, ein paar Monate nach seiner Ankunft in Kairo, schrieb er ihnen einen Abschiedsbrief: «Lebt wohl, meine kostbaren, wertvollen, sorgfältig ausgewählten Bücher. Ich nenne euch meine Bücher und bringe damit zum Ausdruck, dass ich euch nicht von meinen Eltern oder Grosseltern geerbt habe … Ich habe euch auch nicht von anderen Leuten ausgeliehen … Wer würde vermuten, dass Ärzte medizinische Fachbücher, die nur in meiner Bibliothek zu finden waren, von mir ausliehen. In keinem Ministerium tauchte je ein sprachliches Problem auf, ohne dass die Betroffenen mich konsultiert hätten, weil sie wussten, dass meine Bibliothek der wahrscheinlichste Ort war, um eine Lösung des Problems zu finden, oder weil sie annahmen, dass ich zumindest wüsste, wo die Lösung zu finden war. Ich weiss nicht, was nach unserer Abreise aus euch geworden ist: Wurdet ihr weggeschafft oder verbrannt? Wurdet ihr ehrenvoll in eine öffentliche oder private Bibliothek überführt? Oder zu Lebensmittelhändlern gekarrt, damit eure Seiten zum Einwickeln von Zwiebeln verwendet werden können? Lebt wohl, meine Bücher! Ihr seid zu wertvoll, als dass ich ohne euch sein könnte.»

Sakakini starb fünf Jahre später, am 13. August 1953, in Kairo, ohne seine Bücher je wiedergesehen zu haben.

Als Altpapier verkauft

Die israelischen Behörden entschieden 1957, dass etwa 26 000 Bücher, die 1948 aus Privatbibliotheken in ganz Palästina geplündert worden waren, «für den Gebrauch in arabischen Schulen und in Israel ungeeignet waren, [weil] einige von ihnen aufrührerisches Material gegen den Staat [Israel] enthielten und ihre Verbreitung oder ihr Verkauf dem Staat Schaden zufügen könnte». Der Wissenschaftler Gish Amit schreibt, diese Bücher seien «als Altpapier verkauft worden».

Ob ein Buch von einer staatlichen Behörde verboten wird, wie es derzeit in Ländern von Syrien bis zu den USA geschieht, oder ob es in Rauch, Asche oder Papierbrei verwandelt wird – der Effekt ist derselbe: Ein Buch wird aus Gründen, die nichts mit Literatur zu tun haben, als Feind betrachtet. In solchen Fällen wird den Büchern verboten, Leser:innen zu erreichen, nicht aufgrund mangelnder literarischer Verdienste, sondern aus anderen, nichtliterarischen Gründen.

Als mein Roman «Minor Detail» im Juni 2023 mit dem deutschen LiBeraturpreis ausgezeichnet wurde, drohte ihm eine solche Behandlung. Der Roman war schon lange vorher von deutschen Verlagen wiederholt höflich abgelehnt worden, weil sie – obwohl sie ihn als literarischen Text ausgezeichnet fanden – Angst hatten, ihn zu veröffentlichen. Ein Herausgeber eines renommierten Verlags rief sogar einen mit mir befreundeten Schriftsteller an, um sich nach meiner Haltung zur BDS-Bewegung zu erkundigen.

«Minor Detail» wurde von der Jury einstimmig für den LiBeraturpreis ausgewählt, aber noch vor Bekanntgabe des Preises traten zwei Jurymitglieder zurück. Ein Kulturzentrum widerrief seine Einladung zur Preisverleihung, nachdem es Anrufe erhalten hatte, in denen Bedenken geäussert wurden, das Buch vertrete eine antiisraelische Haltung und könnte daher möglicherweise als antisemitisch ausgelegt werden. Die Behauptungen bezogen sich auf ein Ereignis im Buch: die Vergewaltigung eines palästinensischen Mädchens durch israelische Soldaten.

Zur gleichen Zeit, in der sich die Auffassung durchsetzte, dass diese Elemente des Romans das Buch «antiisraelisch» machten, verabschiedete die israelische Regierung ein Gesetz, das es Richter:innen erlaubt, eine palästinensische Person, die eine jüdische israelische Person sexuell angreift, doppelt so hart zu bestrafen wie eine jüdische israelische Person, wenn der Übergriff als «nationalistisch» oder «rassistisch» motiviert oder, mit anderen Worten, als antiisraelisch eingestuft wird. Es ist schwer, die Ironie in der Konstruktion der Bedeutung dieses Begriffes zu übersehen.

Immer wenn ich persönlich mit der Unzulänglichkeit der Realität konfrontiert wurde, eilte mir die literarische Fantasie zu Hilfe. Autor:innen schreiben häufig Fiktion, um die Beklemmungen der gelebten Welt zu überwinden. Eine zwingende Verbindung zwischen Fiktion und Realität zu schaffen, ist ein Akt der Gewalt gegen die Fantasie. Das gilt unabhängig davon, wer es tut, sei es ein Mitglied eines Rechtsgremiums oder Literaturausschusses, eine religiöse Würdenträgerin oder ein Literaturkritiker.

Die Spuren des Rauchs

Im Arabischen ist das Wort für «Literatur» und «Ethik» ein und dasselbe: «adab». «Adab» weist darauf hin, dass wir aus der Literatur eine Ethik entwickeln können, die uns im Leben leitet. Die Literatur kann uns lehren, wie wir zu handeln haben, aber es ist nicht an uns, der Literatur vorzuschreiben, wie sie zu handeln hat. «Adab» – Literatur als Ethik – wird, anders als eine religiöse oder staatliche Autorität, nicht von einem Text, einem Pfad oder von Autor:innen diktiert. Für mich ist Ethik ein Bereich, der mit jeder Lektüre und jedem Schreibakt ständig neu belebt, überdacht und überarbeitet wird. Literatur hat nie Gewalt ausgeübt oder angedroht, so wie es staatliche oder religiöse Autoritäten getan haben. Wenn wir Literatur als Ethik betrachten, stehen uns mehr Möglichkeiten, ethische und anderswertige, zur Verfügung als diejenigen, die wir derzeit haben. Diese Möglichkeiten könnten uns dabei unterstützen, uns zu erkennen oder uns sogar vorzustellen, wer wir im Verhältnis zueinander sind, und anderen einen Platz in uns selbst einzuräumen.

Als Kind liebte ich es, den aufsteigenden Rauch zu beobachten und seine Spur ins Weite zu verfolgen. Wenn er sich mir näherte, versuchte ich, seine Bewegung mit meinen Händen einzudämmen, aber jedes Mal, wenn ich ihn aufzuhalten suchte, waberte der Rauch durch meine Finger und zog nach oben. So oft in meinem Leben, wie ich den Rauch verfolgte, haben mich die Grenzen der Realität in das Reich der Literatur und ihrer Möglichkeiten getrieben. Vielleicht verhalten sich Worte wie Rauch, wenn sie unterdrückt oder verbannt werden; sie setzen ihren Weg fort, ungehindert von allen, die versuchen, sie aufzuhalten. Ich werde ihrer Spur folgen.

Zürich, September 2023

Nachwort vom Oktober 2024: Die Intensivierung der israelischen Militärangriffe auf die Palästinenser:innen in den letzten Monaten führte zur Zerstörung fast aller Bibliotheken in Gaza und zur Verbrennung Tausender von Büchern.

Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Pörtner.