Buchmesse Frankfurt: Wenn Literatur zur Nebensache wird
Nach Antisemitismusvorwürfen gegen einen preisgekrönten Roman der palästinensischen Autorin Adania Shibli wird die Preisverleihung an der Buchmesse abgesagt. Mit seriöser Literaturkritik hat das nichts zu tun.
Eigentlich ist es ein kleiner Preis, über den normalerweise kaum jemand spricht: Seit über dreissig Jahren wird der «LiBeraturpreis» vergeben, eine alljährliche Auszeichnung für Autor:innen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt. Dotiert ist der vom Verein Litprom vergebene Preis mit 3000 Euro, die Verleihung findet jeweils im Rahmen der Frankfurter Buchmesse statt. Doch in den vergangenen Tagen wurde in den Medien heftig über den dieses Jahr ausgezeichneten Roman «Eine Nebensache» der in Berlin lebenden palästinensischen Autorin Adania Shibli diskutiert.
Ende vergangener Woche schliesslich hat Litprom die Preisverleihung kurzfristig abgesagt, «aufgrund des durch die Hamas begonnenen Kriegs, unter dem Millionen Menschen in Israel und Palästina leiden». Man suche nach einem geeigneten Rahmen für die Veranstaltung zu einem späteren Zeitpunkt.
Wie ist es dazu gekommen? Entfacht hat die jüngste Diskussion ein Artikel in der «taz» vom 10. Oktober, in dem Shiblis Buch Antisemitismus vorgeworfen wird. Es stelle Israel als Mordmaschine dar, so der Autor, alle Israelis darin seien anonyme Vergewaltiger und Killer, und der Schluss des Romans gerate, aufbauend auf der ideologischen und menschenverachtenden Basis des Buchs, zu einer pamphlethaften Anklage. Innert kürzester Zeit folgten journalistische Schnellschüsse, die in dieselbe Kerbe schlugen. Bereits im Sommer, als der Name der Preisträgerin bekannt geworden war, hatte der Literaturkritiker Ulrich Noller der Jury vorgeworfen, einen Roman auszuzeichnen, der «antiisraelische und antisemitische» Narrative bediene.
Internationale Anerkennung
Die Jury begründete ihren Entscheid damit, dass Shibli «gleichsam präzise und behutsam» ein «formal wie sprachlich streng durchkomponiertes Kunstwerk» entwerfe, das von der Wirkmacht von Grenzen erzähle und davon, was gewalttätige Konflikte mit und aus Menschen machten. Schon als das Buch 2020 auf Englisch erschienen war, war es in die Endauswahl für den US-Literaturpreis National Book Award sowie 2021 auf die Longlist des internationalen Booker Prize gekommen. Und als «Eine Nebensache» im Frühling 2022 auf Deutsch erschien, wurde es von der deutschsprachigen Kritik als ein Meisterwerk gefeiert. «Inmitten der lauten und polarisierenden Stimmen, die den Nahostkonflikt umgeben, ist Shibli eine leise, eine suchende, eine präzise Detailbeobachterin», schrieb die «Süddeutsche Zeitung» damals.
«Eine Nebensache» ist in zwei Hälften gegliedert. Der erste Teil spielt im Jahr 1949: Die Erzählung folgt einem israelischen Offizier durch die vor Hitze flimmernden Tage in der Wüste Negev; am Ende stehen die Vergewaltigung und die Ermordung eines Beduinenmädchens. Der zweite Teil, Jahrzehnte später: Eine junge Palästinenserin (keine Journalistin, wie nun diverse Zeitungen schreiben) liest einen Artikel über diese – wahre – Begebenheit und will mehr über das ermordete Mädchen erfahren. Die Ich-Erzählerin macht sich auf den Weg von Ramallah in die Wüste, in einem gemieteten Auto und mit einem von einer Kollegin ausgeliehenen israelischen Ausweis, der ihr Zugang zu jenen Zonen ermöglicht, die ihr mit ihren eigenen Papieren versperrt blieben. Begleitet von Angst, passiert sie die Grenzposten, fährt durch die Hitze und sucht in Museen und Archiven nach Antworten.
Alle Figuren in diesem Buch sind namenlos – nicht nur die Israelis –, und anders als von der «taz» behauptet, trifft die Ich-Erzählerin auch auf hilfsbereite Israelis. So erzählt die zweite Hälfte von «Eine Nebensache» aus der Lebensrealität einer Palästinenserin; antiisraelisch oder gar antisemitisch ist der Roman deswegen nicht.
Veränderte Perspektiven
Nun hat sich durch die brutalen Terrorangriffe der Hamas die Lesart dieses Buchs krass geändert. Das aber hat mit seriöser Literaturkritik nichts zu tun, wie Iris Radisch in der «Zeit» schreibt: «Man darf sich die Augen reiben […], wie bedenkenlos ein literarisch weit aus dem Mainstream herausragender Roman einer palästinensischen Autorin plötzlich in die unmittelbare Nachbarschaft der aktuellen Massenmorde der Hamas gestellt wird.» Tatsächlich gibt es keinen Zusammenhang zwischen Shiblis Roman und diesen Gräueltaten.
Adania Shibli, die zurzeit als Writer in Residence am Literaturhaus in Zürich weilt, wollte sich gegenüber der WOZ nicht zu den Vorwürfen äussern. Sie verwahrt sich jedoch seit Erscheinen des Romans gegen dessen politische Vereinnahmung. Im Interview mit der WOZ sagte sie im Frühjahr 2022 (siehe «wobei» Nr. 3/22): «Wir sind es gewohnt, dass die Geschichten aus Palästina immer an die News oder an historische Fakten gebunden sind – deshalb möchten viele mein Buch auch in diesem Kontext lesen. Doch für mich ist mein Buch nur an Literatur gebunden.»
Literatur kann und muss nicht alle Perspektiven abdecken. Doch gute Literatur kann unseren Horizont erweitern, unseren Blick auf die Welt schärfen und uns an Geschichten heranführen, die wir so sonst nirgends hören würden. Genau ein solches Buch ist «Eine Nebensache». Dass die Preisverleihung nun abgesagt wurde, mag angesichts der durch die diffamierenden Berichte aufgeheizten Stimmung nachvollziehbar sein, gab es doch Sicherheitsbedenken vonseiten der Organisator:innen. Aus literarischer Sicht ist es falsch. Die Preisverleihung hätte auch als Plattform genutzt werden können, um über Notwendigkeit und Wirkmacht von Literatur in Kriegszeiten zu diskutieren.
Nachtrag vom 19. Oktober 2023: Mittlerweile haben über 600 Autor:innen und Menschen aus der Literaturbranche in einem offenen Brief die vorläufige Absage der Preisübergabe kritisiert. Anders, als Litprom zuerst behauptet hatte, ist diese nicht in Absprache mit der Autorin geschehen. Unter den Unterzeichnenden sind mit Abdulrazak Gurnah, Annie Ernaux und Olga Tokarczuk auch drei Literaturnobelpreisträger:innen.
Kommentare
Kommentar von Fliegendruck
Do., 19.10.2023 - 11:17
es hat schon arg viel Dramatik in dieser Literatur.
(Ich reichte dies Buch weiter, meinem palästinensischen Freund Gabriel,)
hab in Erinnerung, s war nicht einfach israelisch Militär, das dies Mädchen bedrängte, s war der Gruppenleiter dieser Truppe (wie das militärisch korrekt heisst, will ich gar nicht wissen), er macht sich dann auch Gedanken, die Geschichte begleitet ihn, etc.
Ein schmerzlich genaues Buch!
Vielleicht sollt ich diese 128 S. nochmal kaufen.