Sozialpolitik: Das System bewegt sich
In der Pandemie rutschte eine ganze Bevölkerungsgruppe in die Armut ab. Nun wird das soziale Sicherungsnetz neu geknüpft – mit mutigen Initiativen.
Es ist nach Feierabend, als Raphael Golta nochmals ins Büro kommt, um seine neuste Initiative zu erklären. Von seinem Schreibtisch hoch oben im Verwaltungszentrum an der Werdstrasse hat der Sozialvorsteher der Stadt Zürich einen einmaligen Ausblick über die Stadt, über den See, bis hin zu den Alpen. Golta ist das ein bisschen unangenehm. Es werde ganz schön heiss hier im Sommer, klagt er. Seine Mitarbeiterin versucht, ein Fenster zu öffnen: «Kann man nur kippen.» Als würde das tolle Büro an seiner Glaubwürdigkeit kratzen.
Natürlich hat Golta eine privilegierte Sicht auf die Dinge. Aber wenn ihm etwas nicht vorzuwerfen ist, dann, dass er nichts aus seinen Möglichkeiten macht. Der SP-Mann betreibt die vermutlich aufregendste Sozialpolitik der Schweiz. Mit seiner Initiative, die er «Wirtschaftliche Basishilfe» nennt, denkt er das soziale Sicherungsnetz ein Stück weit neu, «weil wir im letzten Jahr gesehen haben, dass es an bestimmten Stellen einfach nicht hält», sagt er. Ab Juli entrichtet Zürich Menschen mit Migrationshintergrund in drängender Existenznot finanzielle Unterstützung – ausserhalb der Sozialhilfe. Verteilen wird das Geld nicht Goltas Behörde, sondern es werden Hilfswerke wie die Caritas sein, die entscheiden, wohin die Unterstützung geht. Zwei Millionen Franken sind dafür fürs Erste vorgesehen. Es ist der Maximalbetrag, den der Stadtrat in Eigenregie sprechen kann. Bewährt sich diese Basishilfe, will Golta sie verstetigen: «Wir werden auf diese Weise unterstützen, solange es nötig ist.»
Aufenthaltsstatus bedroht
Zürich baut also eine Art parallele Sozialhilfe auf. Eine, die sich der restriktiven Bundesgesetzgebung entzieht. Denn dort ist der Sozialhilfebezug seit 2019 eng ans Aufenthaltsrecht geknüpft. Wer Unterstützung erhält, muss damit rechnen, dieses zu verlieren. Auch erlischt die Chance auf eine Einbürgerung. Von Anfang 2019 bis Oktober 2020 büssten 265 Personen wegen Sozialhilfebezug ihren Aufenthaltsstatus ein, wobei sich grosse Unterschiede zwischen den Kantonen zeigen. Besonders eifrig beim Bewilligungsentzug: der Kanton Zürich. Was die Bundesbehörden von seinem Modell halten? Golta zuckt mit den Schultern: «Der Bund hat keine Legitimation, uns die Sozialpolitik vorzuschreiben. Es ist unsere Aufgabe, Armut zu verhindern.»
Die langen Schlangen vor den Lebensmittelausgaben während der Pandemie sind Ausdruck der neuen Bestimmungen im Ausländer- und Integrationsgesetz. Das bestätigte eine wissenschaftliche Untersuchung, die Golta in Auftrag gab. Besonders prekär ist die Situation für Alleinerziehende mit einer befristeten Bewilligung. Oder für Sans-Papiers, die bei jedem Behördengang fürchten, der Polizei gemeldet zu werden. Beide Gruppen fielen durchs Sicherungsnetz, und in beiden nahmen die psychischen Beschwerden im letzten Jahr enorm zu. Für Golta eine unhaltbare Situation: «Ich kann nicht sagen, ich bin nur für die siebzig Prozent Schweizer zuständig, und der Rest soll in der Suppenküche anstehen, um über die Runden zu kommen.»
Städte zeigen sich flexibel
Eva Gammenthaler kennt die Angst vor dem Staat gut. Sie arbeitet für die kirchliche Gassenarbeit der Stadt Bern. Gammenthaler führt vor allem Beratungen durch, sie hilft bei Formularen und bei Behördengängen. «Die Problematik mit dem Aufenthaltsrecht ist nicht neu, gewisse Gruppen sind von der Sozialhilfe faktisch ausgeschlossen», sagt sie. Bern hat kürzlich eine Infokampagne gestartet, die Stadt lässt vielsprachige Flyer verteilen, in denen sie darauf hinweist, dass ein Sozialhilfebezug während der Pandemie nicht zum Bewilligungsentzug führt. Darüber besteht eine Vereinbarung zwischen den Diensten der Stadt und des Kantons. Aber Gammenthaler glaubt nicht an den Erfolg der Kampagne: «Die Leute sind misstrauisch, sie haben prägende Erfahrungen mit den Behörden gemacht. Und niemand kann ihnen eine Garantie geben, dass ein Sozialhilfebezug nicht doch gegen sie verwendet wird.» Also hangeln sich ihre KlientInnen irgendwie durch, immer in der gesellschaftlichen Schattenzone, immer nah am finanziellen Abgrund.
Vereinbarungen und Kampagnen wie in Bern gibt es etwa auch in Basel. Die Coronapandemie hat die Gesetzmässigkeiten der Sozialpolitik zum Teil ausser Kraft gesetzt. Freiburg leistet Soforthilfe an «eine neu prekarisierte Bevölkerungsgruppe», die nicht zur Sozialhilfe geht. Genf will mit 15 Millionen Franken den Ertragsausfall von Sans-Papiers zwischen März und Mai 2020 entschädigen, zwei Drittel der Genfer Bevölkerung sagten unlängst dazu Ja an der Urne. Dazu überwiesen zahlreiche Gemeinden und Kantone zig Millionen Franken an Hilfsorganisationen, damit diese Lebensmittel verteilen – und überall dort einspringen, wo der Staat sonst nicht hinreicht. Gerät hier ein System in Bewegung, indem bisher unsichtbaren Menschen mit ungesicherten Einkommen und Aufenthaltsstatus ein neues Anrecht auf Unterstützung zugesprochen wird? Wird der neu gezeigte Pragmatismus die Pandemie überdauern?
Véréna Keller, emeritierte Professorin an der Lausanner Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit, ist skeptisch. «Viele der Angebote sind für die Betroffenen eine Zumutung», sagt sie und meint damit etwa die Abgabe von Lebensmittelpaketen. Sie hält die gestiegene Bedeutung privater Überlebenshilfe für problematisch: «Man sollte als Armutsbetroffene nicht auf karitative Unterstützung angewiesen sein.»
Stattdessen müsse der Staat seine Sicherungsnetze reformieren. Aber wenn, dann richtig. Keller hält wenig von der neuen Unterstützung für Sans-Papiers in Genf, da werde «eine riesige Administration aufgebaut, um in einem komplizierten Verfahren ein bisschen Geld zu verteilen». Was aber in Zürich passiere, Goltas Projekt, das sei interessant. Endlich würden jene zur Kenntnis genommen, die gar keinen oder nur einen prekären Aufenthaltsstatus hätten. «Das ist eine sehr positive Auswirkung der Krise», sagt sie. Aber es stört sie, dass unterhalb der Sozialhilfe ein neues System aufgezogen, eine neue Kategorie von Armen geschaffen wird. «Viel vernünftiger wäre es, Sozialhilfe allen zugänglich zu machen.»
Breite Allianz will Verbesserung
Genau das versucht die Baselbieter SP-Nationalrätin Samira Marti. Sie verlangt, dass, wer mehr als zehn Jahre in der Schweiz lebt, seinen Aufenthaltsstatus beim Sozialhilfebezug nicht einbüsst. Ihre Initiative hat die erste Hürde bereits genommen: Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats hiess sie mit knapper Mehrheit gut. «Es ist nicht haltbar, dass Menschen, die seit vierzig Jahren in der Schweiz leben, vielleicht hier geboren sind, nicht mehr hierbleiben dürfen, weil sie in die Sozialhilfe rutschen», sagt sie.
Marti hat ihren Vorstoss gut vorbereitet. Sie hat eine Allianz von achtzig Organisationen hinter sich, hat die Unterstützung der Skos, des Fachverbands der Schweizer Sozialhilfen, gewonnen. Dort ist man alarmiert, denn die Zahl der ausländischen SozialhilfebezügerInnen ging allein im Jahr 2019 um fast zehn Prozent zurück, weil sich Bezugsberechtigte nicht mehr trauen, aufs Amt zu gehen. Die Zahl der Schweizer BezügerInnen war nur um drei Prozent rückläufig. Seit dem Beginn der Coronakrise habe sich diese Entwicklung noch verstärkt, mahnt die Skos in einem Brief an alle Kommissionsmitglieder. Die Betroffenen würden sich stark verschulden, die Wohnung verlieren, nicht zum Arzt gehen. Die Leidtragenden seien vor allem Kinder und Jugendliche.
Die Pandemie hat Handlungsdruck erzeugt. Samira Marti will diesen für dauerhafte Verbesserungen nutzen. Und so auch ein anderes, ein realistischeres Verständnis von Armut schaffen. «Warum erkennen wir an, dass Menschen wegen des Virus unverschuldet in Notlagen geraten sind, aber nicht, wenn sie vom Baugerüst fallen, Opfer häuslicher Gewalt werden oder in Armut hineingeboren wurden?», fragt sie. Véréna Keller sagt, es gebe keine schuldig Armen und keine unschuldig Armen, auch wenn das soziale Sicherungsnetz der Schweiz bei dieser Unterscheidung ansetze. Die gefährliche Zweiteilung habe sich durch die Pandemie akzentuiert: «Es wird so getan, als sei die soziale Krise durch ein Naturereignis ausgebrochen, dabei war sie längst da.»