Yael Inokai: Sätze wie ein Netz über dem Abgrund

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«Es war ein simpler Eingriff», das hält die Ich-Erzählerin gleich zu Beginn fest: «Ich war diejenige, die dem Doktor während des Eingriffs assistierte. Er navigierte seine Instrumente zur betroffenen Stelle im Gehirn und machte diese unschädlich.»

Meret, so heisst die Hauptfigur in Yael Inokais neuem Roman. Sie ist, und darauf legt sie Wert, Krankenschwester: «Ich war stolz darauf, wer ich war, wenn ich die Uniform trug.» Etwas irritierend Soldatisches spricht aus diesem Berufsverständnis, das von Pflichterfüllung und Unterwürfigkeit gegenüber den älteren Schwestern und dem Arzt geprägt ist. Auch die Miniaturen, in denen Meret mit ethnografischer Präzision aus ihrem Alltag zwischen Klinik und Schwesternheim erzählt, wirken gestärkt wie die Schürzen, die sich die Frauen in der Umkleide gegenseitig binden. Wir ahnen bald: So starr und steif die Rituale, so abgrundtief die Ängste und die Zweifel, die sie bannen sollen.

Inokai schreibt in einer reduzierten, einfachen Sprache, da ist kein Wort zu viel in den kurzen Sätzen. Luftig und leicht schweben sie im Ungefähren, doch lose ist das Netz, das sie über den Abgrund spannen. Das gilt einerseits für Merets Beziehungen zu ihrer Schwester Bibi, zur Patientin Marianne und zu Sarah, mit der sie sich ein Zimmer teilt. Sarah, die zu Beginn nur «die Falten in ihrem schludrig gemachten Bett» ist. Intimität klingt an, lange bevor sie sich manifestiert. Auch die knappen Dialoge gleichen einem Hochseilakt. «Wer hat dir das Herz gebrochen?», will Sarah von Meret wissen. «Niemand. Höchstens meine Schwester, als sie weggegangen ist.» – «Aber die kommt zurück.»

Nicht so Marianne. «Etwas in ihren Augen verlöschte. Wir bekamen es nicht zurück.» Sätze wie Faustschläge in die Magengrube. Dabei hatte der Doktor Marianne exakt hundert Seiten zuvor versichert: «Da ist etwas in Ihnen drin, und ich werde es zum Schlafen bringen. Es wird Sie nicht mehr belästigen. Es schläft dann für immer. So einfach ist das.» Und so irritierend wirkt es hier. Nicht zuletzt, weil auch die Zeit, in der die Geschichte spielt, im Ungefähren bleibt. So wie das «etwas», das mit dem Eingriff «zum Schlafen» gebracht werden soll.

Stark, wie sich in diesem Roman Poesie und ein moralisch so heikles wie sensibles Thema gegenseitig in der Schwebe zu halten vermögen. 1968 berichtete «Die Zeit» unter dem Schlagwort «Neurochirurgie hilft Homosexuellen» über stereotaktische Eingriffe. Heute werden sie zur Behandlung von schwer an Parkinson Erkrankten vorgenommen. Die wirklich überraschende Wende allerdings darf man wohl nur von grosser Literatur erwarten, wie sie Inokai mit ihrem neuen Roman bietet.

Yael Inokai liest am Freitag, 27. Mai 2022, um 17 Uhr, und am Samstag, 28. Mai 2022, um 15.30 Uhr an den Solothurner Literaturtagen.

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff. Roman. Verlag Hanser Berlin. Berlin 2022. 192 Seiten. 34 Franken