Friedenspolitik: «Radikaler Pazifismus führt in eine Sackgasse»

Nr. 21 –

Europa rüstet auf, die Schweiz zieht mit. Zwei GSoA-Sekretärinnen über die «Stop F-35»-Initiative und ihre unterschiedlichen Ansichten zur Frage, ob man internationale Waffenlieferungen in die Ukraine unterstützen soll.

Die Schweiz darf keine Waffen in die Ukraine exportieren und kann beim Finanzplatz und beim Rohstoffhandel ohnehin mehr erreichen, darin sind sich Vanessa Bieri (links) und Anja Gada einig.

WOZ: Frau Bieri, Frau Gada, Sie sammeln derzeit Unterschriften für die «Stop F-35»-Initiative. Wie hat sich die Stimmung Ihnen gegenüber seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine verändert?
Vanessa Bieri: Armee und Waffen – das sind sowieso Themen, die polarisieren. Da wird man zwangsläufig auch mal angefeindet. Und tendenziell sagen uns seit Kriegsbeginn mehr Leute, sie seien unsicher, ob sie wirklich unterschreiben wollen. Andererseits gibt es Passant:innen, die umso positiver auf uns reagieren: weil man jetzt ja sehe, was Aufrüstung zur Folge haben könne – und weil wohl nie deutlicher war, wie wenig so ein Tarnkappenbomber im Ernstfall wirklich bringen würde.

Anja Gada: Die einfache Reaktion auf diesen Krieg ist es, jetzt sofort mehr Waffen und eine Erhöhung des Militärbudgets zu fordern. Die pazifistische Haltung erfordert hingegen mehr Mut: Wer in Zeiten des erstarkenden Nationalismus etwa für eine Aufhebung der Wehrpflicht einsteht, wird angefeindet. Ausserdem hat die Propaganda gegen unsere Initiative gefruchtet: Immer mehr Leute glauben, dass es bei unserer Initiative nicht um die Typenwahl gehe, sondern grundsätzlich um die Frage: Kampfjets – ja oder nein.

Aber es stimmt doch auch, dass Sie sich grundsätzlich gegen Kampfjets stellen?
Gada: Die GSoA lehnt die Beschaffung von Kampfjets ab, ja. Aber wir haben diese Initiative gemeinsam mit der SP, den Grünen und deren Jungparteien lanciert. Es geht dabei allein um den Kauf des F-35. Schon bevor sich der Bundesrat auf diesen Typ festlegte, haben wir uns innerhalb der Allianz darauf geeinigt, nur dann eine Initiative zu lancieren, wenn der Bundesrat sich für den F-35 entscheidet.

Jetzt wurde publik, dass er die «Stop F-35»-Initiative gar nicht mehr abwarten will. Halten Sie trotzdem daran fest?
Gada: Ja, das hat unsere Allianz so entschieden. Weil wir es gerade jetzt für wichtig halten, dass unsere Position in der öffentlichen Debatte wahrgenommen wird. Der Entscheid des Bundesrats hat uns nicht überrascht. Seit Februar wird im Wochentakt Druck auf diese Initiative ausgeübt. Bundesrätin Viola Amherd hat uns öffentlich dazu aufgefordert, sie nicht einzureichen. Dabei wurde noch zwei Wochen vor Kriegsbeginn in der Armeebotschaft klar verkündet, dass vor dem Kauf unsere Initiative abgewartet werden soll. Demokratiepolitisch ist dieser ganze Prozess sehr fragwürdig.

Bieri: Wir haben eigentlich eine starke demokratische Tradition, insofern als das Mittel der Initiative berücksichtigt und ernst genommen wird. Der Entscheid des Bundesrats bricht mit dieser Tradition. Und der Krieg gegen die Ukraine ändert nichts daran, dass dieser Kampfjet der falsche ist.

Gada: Es ist ausserdem zynisch, dass der Aufschrei über diese Initiative von der Seite kommt, die sich sonst etwa für Steuerdumping einsetzt, um Firmen wie Gazprom in die Schweiz zu locken: Dadurch fliessen Gelder in die Kriegskasse Russlands. Dass wir jetzt stattdessen ständig über nationale Aufrüstung reden, ist ein Ablenkungsmanöver.

Der Ruf nach Aufrüstung ist derzeit atemberaubend laut. Haben Sie auch Verständnis für diese Dynamik?
Bieri: Nein. Aufrüstung war noch nie eine Lösung. Und im Moment wird fast schon blind aufgerüstet. Die Menschen haben Angst. Aber gerade am Beispiel der Kampfjets sehen wir ja: Die werden allerfrühestens in vier Jahren geliefert. Kurzfristig bringt uns das nichts. Die Bürgerlichen versuchen einfach, die jetzige Situation auszunutzen.

Gada: Und viel zu selten wird thematisiert, dass die Aufrüstung ja schon lange in Gang ist. Weltweit werden jedes Jahr über zwei Billionen US-Dollar in Rüstung investiert. Auch in der Schweiz ist das Armeebudget in den letzten Jahren in absoluten Zahlen gestiegen.

Aber man muss doch auch anerkennen, dass die Möglichkeit eines Territorialkriegs vorstellbarer ist als noch vor wenigen Wochen.
Gada: Ich verstehe, dass viele Menschen in der jetzigen Situation Angst und ein ausgeprägteres Sicherheitsbedürfnis haben. Das ändert aber nichts daran, dass Russland, um einen Angriffskrieg gegen die Schweiz führen zu können, vorher noch in mehrere Nato-Staaten einmarschieren müsste. Bevor die Schweiz angegriffen werden könnte, wäre schon lange ein atomarer Weltkrieg ausgebrochen.

Viel konkreter ist dagegen die Frage, ob man internationale Waffenexporte in die Ukraine unterstützen sollte: ein Land im Krieg. Sie arbeiten beide bei der GSoA, vertreten in diesem Punkt aber unterschiedliche Positionen. Können Sie sie erläutern?
Gada: Ich erkenne das Recht auf Selbstverteidigung an. Wenn niemand die Pflicht wahrnimmt, dieses Recht auch zu gewährleisten, bleibt das aber eine leere Worthülse. Die Ukraine wird angegriffen. Und Putin agiert imperialistisch: Er besetzt Gebiete. Zivilist:innen werden niedergemetzelt. Ich kann es nicht verantworten, diesen Menschen aus einer so privilegierten Position heraus zu sagen, dass sie für sich selbst schauen sollen. Allerdings scheint mir völlig klar, dass es nicht die Rolle der Schweiz ist, Waffen zu liefern. Wir haben viel grössere Hebel: unseren Finanzplatz und den Rohstoffhandel.

Bieri: Darin, dass sich für die Schweiz diese Frage nicht stellt, sind wir uns einig. Auch aus rechtlichen Gründen. Ich stehe aber auch grundsätzlich gegen Waffenlieferungen ein. Erstens habe ich das Gefühl, dass es enorm wichtig ist, als Gegenwicht zur blinden Aufrüstung einen klaren, radikalen Standpunkt zu vertreten. Mehr Waffen, das bedeutet immer auch mehr Blutvergiessen, mehr Tod. Es stimmt, dass das ein sehr privilegierter Standpunkt ist. Aber diese Position ermöglicht mir ja auch, darüber nachzudenken, was für ein System wir stützen, wenn wir diesen Krieg am Laufen halten: ein patriarchales, eines, das territoriale Grenzen zementiert. Dass das der einzige Ausweg sein soll, will ich so nicht hinnehmen. Aber natürlich ist das eine enorm schwierige Frage – gerade für uns Linke, die seit Jahren dagegen ankämpfen, dass die Bestimmungen für Waffenexporte gelockert werden.

Gada: Ich bin der Meinung, dass es Situationen gibt, in denen Waffengewalt gerechtfertigt ist. Für mich führt die radikalpazifistische Position in eine Sackgasse – nicht nur in Bezug auf die Ukraine, sondern etwa auch auf Rojava. Wenn eine Organisation wie der sogenannte Islamische Staat wahllos Menschen tötet, kann ich diese Position nicht verantworten.

Bieri: Ich will das Recht auf Selbstverteidigung auch niemandem absprechen: Wer in die Mündung einer Waffe blickt, soll zurückschiessen können. Aber ich will nicht anerkennen, dass darin der einzige Weg liegen soll.

Sie beide haben jetzt mehrmals auf Ihre privilegierte Position verwiesen. Das scheint mir recht einfach. Welche praktischen Implikationen hat diese Reflexion?
Bieri: Es ist nicht nur bei diesem Thema wichtig, sich der eigenen Privilegien bewusst zu sein, um die eigene Sicht auf die Welt besser einordnen zu können. Ich habe einen theoretischen Zugang zu diesen Fragen. Und mir ist bewusst, dass ich nicht den Anspruch haben darf, dass sich meine Meinung, wenn ich selbst betroffen wäre, nicht verändern würde. Ich verurteile es nicht, wenn jemand unter Beschuss zurückschiesst. Aber der Angriff auf die Ukraine zeigt ja auch wieder, wie schrecklich die Auswirkungen des Kriegs und der Aufrüstung sind. Umso bedeutender scheint mir die hoffnungsvolle Position: der Versuch, dem mit unserer Arbeit entgegenzuwirken – auch in Friedenszeiten.

Gada: Das ist ja so schwierig: Man kann noch so lange theoretisch friedenspolitisch argumentieren, und das ist auch wichtig – aber in der Realität sterben die Leute halt an einem anderen Ort. Es muss jetzt konkret etwas passieren, um die Ukrainer:innen zu unterstützen.

Schwächt das die GSoA, eine der wichtigsten antimilitaristischen Stimmen der Schweiz, wenn sie sich jetzt im Ernstfall nicht mehr eindeutig gegen den Waffenexport stellt?
Gada: Was die Schweiz betrifft, ist die Position ja völlig klar. Wir sind der Depositarstaat der Genfer Konvention. Wir dürfen in die Ukraine keine Waffen liefern, das ist verboten – und das ist auch richtig so. Es braucht Staaten, die das nicht tun. Und grundsätzlich gilt: Je mehr das sind, desto besser.

Bieri: Antimilitaristische Politik ist primär Kriegsverhinderungspolitik. Dafür stehen wir ein. Im Gegensatz dazu sehen wir jetzt die Folgen der bürgerlichen Politik, die seit Jahren versucht, die Regelungen für den Export von Waffen zu lockern. Deshalb glaube ich, dass diese Krise uns eher stärkt. An unserer Politik hat sich nichts verändert.

Sie haben andere Handlungsmöglichkeiten angesprochen. Was fordern Sie genau?
Gada: Uns ist es ein grosses Anliegen, auch für Kriegsgegner:innen und Deserteur:innen in Russland einzustehen. Wir fordern die Einführung des Botschaftsasyls in Russland, um ihnen Schutz zu bieten. Und wir kritisieren die Wehrpflicht für Männer in der Ukraine. Zweitens ist sicher der Finanzplatz ein grosses Thema. Es scheint, als gäbe sich in der Schweiz niemand wirklich Mühe, den Milliarden des russischen Regimes nachzuspüren. Der Bundesrat delegiert die Verantwortung an die Kantone. Hinzu kommt der Rohstoffhandel: Wir fordern einen sofortigen Handelsstopp für russisches Erdöl und -gas. Wir stehen hier in der Verantwortung – was auch eine direkte Folge der bürgerlichen Politik der letzten Jahre ist, die die Ansiedlung solcher Handelsunternehmen in der Schweiz gefördert hat. Heute werden achtzig Prozent des russischen Öls und Gases über die Schweiz gehandelt. Der Umsatz, den Russland damit erzielt, hat sich wegen der steigenden Preise seit Kriegsbeginn mehr als verdoppelt. Das so erwirtschaftete Geld ist ein wichtiger Beitrag an die militärischen Ausgaben Russlands. Und diese Kriegsfinanzierung können und müssen wir stoppen.

Bieri: Es ist doch tragisch, dass wir in der Schweiz medial vor allem über die Waffenthematik sprechen – und nicht über das, was für uns wirklich relevant wäre. Die Schweiz hat einen riesigen Hebel. Ihn nicht einzusetzen, ist aus unserer Sicht unentschuldbar. Und es bedeutet, dass die Schweiz diesen Krieg mitfinanziert – statt sich konsequent dagegenzustellen.

Vanessa Bieri (25) und Anja Gada (20) sind Sekretärinnen der GSoA. Bieri arbeitete zuletzt als Campaignerin für die 99-Prozent-Initiative und ist Kopräsidentin der SP-Frauen Kanton Bern. Gada hat zuvor bei der SP Zürich gearbeitet und ist seit mehreren Jahren beim Klimastreik aktiv.