Kommentar von Jan Jirát: Frieden aus der Schweiz
Die Schweiz war einst treibende Kraft einer globalen Friedenspolitik. Heute beteiligt sie sich willfährig am weltweiten Aufrüstungswettrennen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs drohte der Schweiz die Isolation. Die Alliierten kritisierten das Land dafür, profitable Geschäftsbeziehungen mit Nazideutschland geführt zu haben. Es war massgeblich dem damaligen Aussenminister Max Petitpierre (FDP) zu verdanken, dass ein Befreiungsschlag gelang: Er organisierte 1949 in Genf eine grosse diplomatische Konferenz und machte die Schweiz zum Depositarstaat der Genfer Konventionen. Diese bilden bis heute den Kern des humanitären Völkerrechts, sie schützen die Zivilbevölkerung im Kriegsfall. Petitpierre hat die Schweiz zu einem Zentrum der globalen Friedenspolitik gemacht.
Heute steht die Schweiz an einem ähnlichen Punkt wie nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Beziehung zur EU ist spätestens seit dem Scheitern des Rahmenabkommens vor zwei Jahren arg ramponiert. Für internationalen Unmut sorgt auch die starre Auslegung des Neutralitätsprinzips durch den Bundesrat, die jegliche militärische Unterstützung zur notwendigen Selbstverteidigung der Ukraine blockiert. Gleichzeitig bleibt die Schweiz ein sicherer Hafen für Vermögen russischer Oligarchen; ein wesentlicher Teil der russischen Rohstoffgeschäfte, über die der Angriffskrieg gegen die Ukraine finanziert wird, läuft über Firmensitze in Zug, Genf und Lugano.
Der heutige Aussenminister Ignazio Cassis teilt mit Max Petitpierre zwar die Parteizugehörigkeit, lässt aber jeglichen aussenpolitischen Gestaltungswillen vermissen. Für Impulse sorgt aber Viola Amherd (Mitte), und die sind von Amtes wegen militärisch geprägt. Letzte Woche unterzeichnete die Armeeministerin eine Absichtserklärung für den Beitritt zur European Sky Shield Initiative (ESSI), einem von Deutschland initiierten europäischen Luftverteidigungsverbund, der künftig der Nato unterstellt werden soll.
Das ist kein Befreiungsschlag, aber ein klarer sicherheits- und aussenpolitischer Öffnungsschritt. Fast zwei Jahrzehnte lang war das Verteidigungsdepartement (VBS) in den Händen der SVP, die einen isolationistischen Kurs verfolgte und das nachweislich falsche Bild einer autarken, wehrhaften Schweiz zeichnete. Kein Wunder, tobt die Partei angesichts von Amherds Willen zum Sky-Shield-Beitritt. Sie konstatiert den «Todesstoss unserer Neutralität» und eine «Natoisierung der Schweiz» – und hat mit beiden Einschätzungen nicht komplett unrecht.
Doch aus linker Perspektive ist die Sache komplizierter. Grundsätzlich ist eine sicherheitspolitische Öffnung nach Europa begrüssenswert. Es wäre – gerade auch finanziell – sinnlos, wenn die europäischen Staaten je selbst ihren Luftraum verteidigen würden. Und ein starker Luftschutz ist derzeit besonders für die baltischen Staaten existenziell, um sich gegen mögliche Angriffe aus Russland zu wappnen. Auch die Schweiz muss ein Interesse an dieser Verteidigungslinie haben. Der Schritt hat angesichts des Angriffskriegs gegen die Ukraine seine Berechtigung.
Der gewünschte Beitritt zu Sky Shield ist aber tatsächlich ein weiterer Schritt in Richtung Nato, in eine Abhängigkeit von Waffen- und Telekommunikationssystemen aus den USA. So wie das beim Kauf der F-35-Jets der Fall war, den Amherd durchgedrückt hat, ohne die «Stop F-35»-Initiative abzuwarten, für die genügend Unterschriften gesammelt worden waren. Und diesen Schritt macht die Schweiz, ohne sich gleichzeitig aktiv für Friedensförderung und zivile internationale Zusammenarbeit einzusetzen, etwa in der Uno oder der OSZE. Sie macht ihn auch, ohne gleichzeitig dort abzurüsten, wo es trotz des russischen Angriffskriegs möglich wäre. Der vom Parlament seit Jahren geforderte Atomwaffenverbotsvertrag lag die letzten Jahre auf Eis und könnte bald gekippt werden.
Dazu kommt, dass die Annäherung an die Nato gänzlich ohne politische Debatte geschieht. Dabei wäre eine solche dringend nötig. Die Schweiz sollte sich auf eine aktive Friedenspolitik in der Tradition von Petitpierre besinnen, die sie vor über siebzig Jahren aus der Isolation und zu einer eigenständigen Rolle auf der internationalen Bühne geführt hat.