China: Tadeln und profitieren

Nr. 22 –

Neue Dokumente belegen die enorme und gewaltvolle staatliche Unterdrückung der uigurischen Minderheit in der Region Xinjiang. Der Westen empört sich laut, eigene Verstrickungen hingegen ignoriert er.

Erniedrigung, Gewalt und Zwangssterilisationen: Fotos inhaftierter Uigur:innen aus verschiedenen Lagern in der Autonomen Region Xinjiang. Quelle: www.xinjiangpolicefiles.org

Vergangene Woche veröffentlichten grosse internationale Medienhäuser wie der «Spiegel», «Le Monde» oder die BBC die «Xinjiang Police Files», interne Polizeiakten aus den Landkreisen Konasheher und Tekes in Chinas Autonomer Region Xinjiang, die die Unterdrückung der dort lebenden Uigur:innen belegen. Das Material umfasst einen Zeitraum von 2000 bis 2018 und wurde dem deutschen Anthropologen Adrian Zenz zugespielt – mutmasslich von Leuten, die behördliche Server gehackt hatten. Zenz arbeitet für die antikommunistische, rechte US-Stiftung Victims of Communism Memorial Foundation in Washington. Er leitete das Material an die Medien weiter, die es auf Authentizität prüfen liessen.

Die Dokumente bestätigen Berichte von Uigur:innen, die in den letzten Jahren in chinesischen Internierungslagern sassen und später ins Ausland entkamen. Erstmals liegen nun Tausende Fotos aus Lagern und Polizeistationen vor, die die Haftbedingungen, ideologische Schulungen und Verhöre sowie die behördliche Willkür und Gewalt zeigen. Das Material belegt auch frühere Recherchen zum Ausmass der Unterdrückung. Die 2019 vorgenommene Schätzung auf etwa eine Million Internierte lässt sich zwar nicht abschliessend beweisen, aber die jetzt vorliegenden Dokumente zeugen von der massenweisen präventiven Internierung von Uigur:innen und anderen muslimischen Gruppen.

Firmen wollen bleiben

Die chinesische Regierung behauptete bereits 2019, dass viele der von ihr «Berufsbildungszentren» genannten Lager geschlossen wurden. Dem Xinjiang-Experten Darren Byler von der Simon-Fraser-Universität in Vancouver zufolge sind die Häftlinge jedoch «in Gefängnisse, bewachte Fabriken und Internierungszentren verlegt worden». Andere Quellen besagen, dass viele zur Arbeit in der Landwirtschaft, der Industrie und im Bergbau gezwungen werden. Ehemalige Häftlinge berichteten in der Vergangenheit auch von Erniedrigung, Gewalt und Zwangssterilisationen. Das Regime der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) setze seine Assimilierungspolitik fort und zerstöre weiter kulturelle und religiöse Stätten.

Uigurische Exilorganisationen, Menschenrechtsgruppen sowie westliche Regierungen und Medien bezeichnen das Vorgehen der KPCh als Genozid. Nach der Veröffentlichung der «Xinjiang Police Files» verlangten einige von ihnen, die bisherigen Sanktionen weiter zu verschärfen. Die EU verhängte bereits im Frühjahr 2021 Sanktionen gegen Personen in China, die mit der Unterdrückung in Xinjiang in Verbindung stehen, und später legte sie gar das mit China ausgehandelte – aber noch nicht ratifizierte – Investitionsabkommen CAI wegen der Xinjiang-Vorwürfe auf Eis.

Auch die US-Regierung verhängte im letzten Jahr Sanktionen gegen Einzelpersonen in China, und Ende 2021 beschloss das US-Repräsentantenhaus den «Uyghur Forced Labor Prevention Act», der in der nächsten Woche in Kraft treten wird. Das Gesetz verbietet die Einfuhr aller unter Einsatz von Zwangsarbeiter:innen aus Xinjiang produzierten Güter. Die Importeure müssen selbst nachweisen, dass ihre Zulieferkette frei von Zwangsarbeit ist. Laut dem Xinjiang-Experten Darren Byler hat das Gesetz bereits zu Produktionsverlagerungen geführt, und er erwartet weitere «enorme Auswirkungen auf globale Zulieferketten von der Hightech- bis zur Bekleidungsindustrie».

Auch Unternehmen aus der Schweiz und Deutschland sind in Xinjiang aktiv und stehen deshalb immer wieder in der Kritik. So berichtete etwa SRF letztes Jahr, dass Maschinenbaufirmen wie Rieter oder Saurer in der regionalen Textilindustrie aktiv seien. Auch Volkswagen und die BASF (Chemie) betreiben dort Produktionsstätten. Laut einem Bericht im deutschen «Handelsblatt» wollen sie keine Konsequenzen aus den jüngsten Veröffentlichungen ziehen.

Absicherung der Expansion

Auf chinesischer Seite haben die westlichen Sanktionen bisher wenig Wirkung gezeigt, von einzelnen Gegensanktionen abgesehen. Nach der Veröffentlichung des Materials letzte Woche wandte sich ein Sprecher des chinesischen Aussenministeriums gegen die «Verbreitung von Gerüchten und Lügen» durch «antichinesische Kräfte».

Die KPCh-Führung hat bereits mehrfach betont, die in Xinjiang durchgeführten Massnahmen seien gegen Terrorismus und religiösen Extremismus gerichtet und die «Berufsausbildungszentren» Teil ihrer Kampagne gegen Armut. Als letzte Woche die Uno-Kommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, in die Region Xinjiang reiste, um sich vor Ort ein Bild zu machen, nutzte das Regime diese Reise, um seine «antiterroristische» Position zu verbreiten.

Das kommunistische Regime in Peking unterschlägt aber tatsächlich, dass die Konflikte in Xinjiang auf den jahrzehntelangen chinesischen Siedlerkolonialismus und die Verdrängung der muslimischen Bevölkerung zurückgehen. Sie will die sowohl für den Binnenmarkt wie auch für die Exportwirtschaft wichtigen Sektoren wie Landwirtschaft und Rohstoffförderung weiterentwickeln und die Region als Handels- und Produktionsstandort im Rahmen ihres globalen Expansionsprogramms, der Belt-and-Road-Initiative, absichern. Diesem Ziel dient die gewaltsame «Befriedung» der muslimischen Bevölkerung sowie ihre neokoloniale Zurichtung für die kapitalistische Ausbeutung.

Westliche Regierungen benutzen die Auseinandersetzung um Xinjiang und den nach dem neuen Leak erneut einsetzenden Empörungsreflex für den von ihnen beschworenen Systemkonflikt zwischen einem «demokratischen» und einem «autokratischen» Block. Die Verflechtung des westlichen Kapitalismus mit dem chinesischen wird dabei oft ausgeblendet, und auch die mithilfe westlichen Kapitals vorangetriebene Ausbeutung von chinesischen Arbeiter:innen in anderen Regionen wird kaum thematisiert.