Arbeitsmarktreform in der Ukraine : Ein gefährlicher Paradigmenwechsel
Die grössten Frechheiten verbergen sich oft hinter unscheinbaren Begriffen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Entwurf für das «Gesetz Nr. 5371» zur «Vereinfachung der Arbeitsbeziehungen in kleinen und mittleren Unternehmen». Mitte Mai passierte das Ansinnen in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, die Erstlesung; nun soll es in der zweiten Lesung endgültig verabschiedet werden. Schon im März hatte der Gesetzgeber eine Arbeitsmarktreform durchgepeitscht, in deren Folge der Kündigungsschutz gelockert und die maximale Arbeitszeit erhöht wurde.
Die «Vereinfachung» der Beziehungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten bedeutet indes nichts anderes als maximale Flexibilisierung und die vollkommene Deregulierung des Arbeitsmarkts. Im Kern zielt das Gesetz darauf ab, alle Beschäftigten in Betrieben mit bis zu 250 Personen – also einen Grossteil der ukrainischen Arbeiter:innen – ihrer Rechte zu berauben: Statt der aktuell geltenden Gesetze sollen inskünftig individuell mit den Unternehmen geschlossene Verträge die Arbeitsbedingungen und die Löhne definieren. Die Reform käme also einem gefährlichen Paradigmenwechsel gleich.
Der Entwurf stammt aus der Feder einer NGO des georgischen Expräsidenten Michail Saakaschwili, der die Regierung gemeinsam mit der US-Behörde USAid und dem Arbeitgeberverband beraten hat. Ins Parlament gebracht wurde es von einer Gruppe um die Abgeordnete Halina Tretjakowa von der Selenski-Partei «Diener des Volkes», die den parlamentarischen Ausschuss für Sozialpolitik leitet. Als das Projekt vor rund einem Jahr auf den Weg gebracht wurde, übten ukrainische und internationale Gewerkschaften harsche Kritik am Entwurf, der daraufhin in der Schublade verschwand. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs wurde er nun als «Antikrisenmassnahme» für den gebeutelten Arbeitsmarkt verkauft.
Der ukrainische Gewerkschaftsbund FPU warnt entsprechend davor, dass eine Annahme vor allem den Interessen der Unternehmen diene und die Arbeiter:innen schutzlos zurücklasse. Ein offener Brief, den auch Pierre-Yves Maillard, der Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, unterzeichnet hat, fordert die ukrainischen Parlamentarier:innen auf, dem umstrittenen Gesetz nicht zuzustimmen. «Das Gesetz würde die Ungleichheit bloss weiter verstärken und den sozialen Dialog erschweren. Und es würde die Perspektive auf einen EU-Beitritt unterminieren», heisst es darin.