EU-Osterweiterung: Zuckerbrot und Peitsche

Nr. 25 –

Diese Woche entscheidet sich, ob die Ukraine dem EU-Beitritt einen Schritt näher kommt. Andere Länder hängen seit Jahren in der Warteschlaufe – und sind von den leeren Versprechen aus Brüssel zunehmend enttäuscht.

die ukrainische und die EU-Flagge in einem Vorort von Lwiw, Ukraine
Es gibt keinen kurzen Weg zum Beitritt: Die ukrainische und die EU-Flagge in einem Vorort von Lwiw. Foto: Wojciech Grzedzinski, Getty

Wolodimir Selenski blickt ernst in die Kamera, als er am Montagabend durch das Regierungsviertel von Kyjiw schreitet. «Schritt für Schritt begehen wir diese entscheidende Woche, jeden Tag tun wir alles, damit niemand daran zweifelt, dass die Ukraine den Kandidatenstatus verdient. Jeden Tag aufs Neue beweisen wir, dass wir längst Teil eines vereinten europäischen Werteraums sind», sagt der Präsident feierlich.

Wenige Stunden vor Selenskis Ansprache hat die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt ratifiziert – ein Schritt, für den Feministinnen über ein Jahrzehnt lang gekämpft hatten. Zudem verabschiedeten die Abgeordneten eine Strategie gegen Korruption und eine Reform der Abfallentsorgung.

Dass die drei Beschlüsse gerade jetzt gefällt wurden, ist kein Zufall: Ab Donnerstag tagt in Brüssel der Europäische Rat, die Ukraine soll dabei offiziell den Status der Beitrittskandidatin erhalten. So zumindest hat es die EU-Kommission empfohlen, und so haben es die Staatschefs der drei Gründungsmitglieder Deutschland, Frankreich und Italien bei ihrem Besuch in Kyjiw gemeinsam mit Rumänien versprochen.

Dass dies auch dem Wunsch der Ukraine entspricht, hatte Selenski bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn erklärt. «Wir kämpfen darum, gleichberechtigte Mitglieder Europas zu sein», sagte er damals per Videoschaltung im EU-Parlament. Seither hat er sein Anliegen unzählige Male wiederholt. Laut aktuellen Umfragen ist auch eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung für den Beitritt.

Keine direkten Konsequenzen

Auch wenn sich die führenden Wirtschaftsmächte Europas demonstrativ hinter die Ukraine stellen – dem Entscheid zustimmen müssen alle 27 Mitgliedsländer. Und wie bei vielen anderen Fragen ist die EU auch bei der Osterweiterung gespalten.

Die meisten osteuropäischen Länder würden die Ukraine am liebsten schon morgen als Vollmitglied begrüssen, südliche Staaten wie Portugal hingegen befürchten finanzielle Einbussen, sollten die Gelder aus den Fördertöpfen vermehrt in den Osten fliessen. Und während die einen mit Blick auf die rechtsstaatlich desolate Entwicklung von Polen und Ungarn vor übereiligen Schritten warnen, befürchten andere, dass eine Vorzugsbehandlung der Ukraine auf dem Westbalkan für Frustration sorgen würde. In den letzten Tagen haben sich allerdings auch skeptische Länder wie Portugal oder die Niederlande zugunsten der Ukraine ausgesprochen.

Die Dynamik bleibt weiterhin schwer abzuschätzen. Doch selbst wenn die Mitgliedschaft der Ukraine in der «europäischen Familie», von der Deutschlands Kanzler Olaf Scholz in Kyjiw pathetisch sprach, in Brüssel bestätigt wird, wäre der Entscheid bloss symbolischer Natur – direkte Konsequenzen hat der Kandidatenstatus vorerst nicht. Als nächsten Schritt müsste die EU-Kommission die Aufnahme von Verhandlungen empfehlen, was wiederum alle Mitgliedstaaten absegnen müssten. Und wäre auch diese Hürde genommen, blieben noch die Gespräche selbst: über die Übernahme des Rechtsbestands der EU, des sogenannten Acquis, der 35 Beitrittskapitel auf mehr als 100 000 Seiten umfasst. Hinzu kommen die Kopenhagen-Kriterien in den Bereichen Wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.

Von deren Erfüllung ist die Ukraine aber ohnehin noch weit entfernt. Das lässt sich nicht nur daran ablesen, dass das Land auf der Korruptionsrangliste von Transparency International auf Platz 122 liegt. Beispielhaft dafür steht auch eine aktuelle, höchst umstrittene Reform zur Deregulierung der Arbeitsgesetze. Als der Entwurf vor einem Jahr aufs Tapet kam, stellte der parlamentarische Ausschuss zur EU-Integration eine Unvereinbarkeit mit dem Assoziierungsabkommen und einen Verstoss gegen die Grundrechtecharta der EU fest. Sollte die Rada die Reform absegnen, würde dies die Beitrittsperspektive des Landes unterminieren, warnen deshalb ukrainische wie internationale Gewerkschaften.

Unsensibles Brüssel

Zwischen der Perspektive auf einen EU-Beitritt und konkreten Gesprächen vergehen oft Jahre bis Jahrzehnte. So wartet die Türkei schon seit 1999 darauf, dass sich die Tore der EU öffnen. Nordmazedonien hat vor fast zwei Dekaden die Aufnahme in die EU beantragt; seither behindert Bulgarien den Prozess, obwohl die Regierung in Skopje die meisten Kriterien längst erfüllt. Auch bei Albanien drückt Sofia stark auf die Bremse.

Auch die anderen Länder des Westbalkans stecken in einer ewigen Warteschlaufe; übereilige Versprechen an die Ukraine dürften dort nicht gerade auf Begeisterung stossen. Weil man das in den EU-Hauptstädten weiss, ist vor dem Treffen am Erscheinungstag dieser WOZ eine Sitzung mit den Vertreter:innen dieser Staaten geplant. Man wolle dem «Erweiterungsprozess neue Energie einhauchen», schrieb Ratspräsident Charles Michel in seinem Einladungsbrief an die Mitgliedsländer.

Konfliktpotenzial birgt aber noch ein weiteres Thema: Aktuell sind Georgien, Moldawien und die Ukraine durch sogenannte Assoziierungsabkommen mit der EU verbunden, kurz nach Kriegsausbruch stellten die drei Länder den Antrag auf einen Beitritt. Eine Empfehlung erhielten nun aber nur die Regierungen in Chisinau und Kyjiw. In Tiflis muss man sich stattdessen mit einer «europäischen Perspektive» begnügen, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen es formulierte. Der Entscheid sorgte dort für Ernüchterung: Am Dienstag schwenkten in der georgischen Hauptstadt Zehntausende beim «Marsch für Europa» EU-Flaggen.

Während es Brüssel bei der Osterweiterung primär um die Erschliessung neuer Märkte geht, ist der Weg in die EU in den Ländern an der Peripherie mit grossen Hoffnungen verbunden. Von der Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik sind viele dort schon lange enttäuscht: Die EU verspricht Annäherung, lässt den salbungsvollen Worten aber meist kaum Taten folgen – und trägt so zur Perspektivlosigkeit bei.

Ein Erfolg für Selenski

Der Druck auf die EU, der Ukraine mit einem positiven Entscheid beizustehen, ist hoch. Allerdings lenkt die Debatte auch davon ab, dass Länder wie Deutschland die versprochenen Waffen bloss zögerlich liefern. Nicht zuletzt deshalb hat sich Kanzler Scholz in Kyjiw wohl so deutlich für den EU-Beitritt ausgesprochen.

Im Osten und im Süden der Ukraine wird derweil weiter heftig gekämpft, unter anderem um die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk. Es ist ein Abnutzungskrieg, bei dem beide Seiten zwar kaum grosse Geländegewinne machen, aber täglich Hunderte Soldaten und Zivilistinnen sterben. Expert:innen gehen davon aus, dass die Gefechte mindestens bis in den Herbst hinein, vermutlich aber viel länger weitergehen. Eine Annäherung an die EU dürfte es Selenski immerhin ermöglichen, seiner kriegsgebeutelten Bevölkerung einen Erfolg zu präsentieren.

Der EU-Gipfel bildet den Auftakt zu einem Marathon: Anfang nächster Woche tagen auf Schloss Elmau in den bayerischen Alpen die Vertreter:innen der G7-Staaten, anschliessend trifft sich die Nato in Madrid. Auch dort wird die Ukraine das Hauptthema sein, Selenski hat seine Teilnahme bestätigt, er wird voraussichtlich per Videokonferenz zu den Teilnehmer:innen sprechen. Vielleicht wird die Tür zur EU für die Ukraine danach immerhin einen Spaltbreit offen sein.

Hochkarätige Konferenz

Ignazio Cassis scheut keine grossen Worte, um die Bedeutung der Ukrainekonferenz zu unterstreichen, die Anfang Juli in Lugano stattfindet. Ein Schweizer Beitrag zur Stabilität der Welt sei der Anlass, sagte der Bundespräsident Anfang der Woche. Auch der Marshallplan zum Wiederaufbau Europas sei schliesslich schon zwei Jahre vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgegleist worden. Entsprechend soll nun der Prozess für den Neuaufbau der Ukraine anlaufen.

Eingeladen sind vierzig Staaten und zwanzig Organisationen, ihre Teilnahme bestätigt hat unter anderem die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Am Ende der Konferenz soll eine Deklaration verabschiedet werden.