Biennale in Venedig: Zombie-Surrealismus an der Zeitenwende

Nr. 23 –

Die Kunstbiennale bietet ein vor allem weiblich geprägtes Wimmelbild der Gegenwartskunst. Und stellt so immer auch die Frage, was wir sehen können und wollen. Die politische Aktualität hingegen scheint die Kunst erst einmal in Schockstarre versetzt zu haben.

  • Die Biennale schlägt eine Brücke von den zerstückelten Körpern der Surrealisten zu den Cyborgs von heute, hier mit Ai-Da, der ersten humanoiden Roboterkünstlerin. Foto: Guy Bell, Alamy
  • Ein Reigen kaum bekannter Künstlerinnen ist an der Biennale zu entdecken: Jane Graverols «L’École de la Vanité», 1967. Foto: Ela Bialkowska, OKNO Studio, La Biennale di Venezia
  • Hintersinnig minimalistisch: Pawlo Makows «Fountain of Exhaustion. Aqua Alta» im Pavillon der Ukraine. Foto: Andrea Avezzù, La biennale di Venezia
  • Die Skulptur von Simone Leigh verschafft dem zur afrikanischen Hütte ­umdekorierten US-Pavillon Beachtung. Foto: Marco Cappelletti, La Biennale di Venezia

In Europa herrscht Krieg. Überall wird von einer Zeitenwende gesprochen. In Venedig wartet die Kunstbiennale, und vom Krieg kündet zunächst vor allem, dass vor den Giardini, wo die Länderpavillons stehen, nicht die üblichen Oligarchenjachten ankern. Ausserdem ist der russische Pavillon im Stil der Zaren, frisch renoviert und mit der Jahreszahl 1914 drauf, geschlossen und von Carabinieri bewacht. Ein paar Schritte weiter erinnert ein Sandsackkegel beim Giardini-Café an die mörderischen Angriffe auf die Ukraine. Das wird als Dekor wahrgenommen und kaum weiter beachtet. Lieber drängt das Kunstvölklein nach zwei entbehrungsreichen Pandemiejahren zur Kunst. Als ob nichts wäre. Das ist durchaus ein Befund.

In der prächtigen Art-nouveau-Eingangsrotunde im zentralen Pavillon, dem ersten Teil der von Cecilia Alemani kuratierten Hauptausstellung, spiegelt sich ein in Kunstharz gegossener aufgesockelter Elefant von Katharina Fritsch ins Unendliche. Er erinnert an den Elefanten Toni, dessen Heimat die Giardini vor der Gründung der Biennale 1896 waren. Im zweiten Teil der Ausstellung in den weitläufigen ehemaligen Industriehallen des Arsenale dagegen begrüsst uns die Büste einer Schwarzen Frau von Simone Leigh. In ihrer Monumentalität weckt sie Assoziationen an die immer eine Nummer zu grossen Heldendenkmäler totalitärer Staaten. Die Frau scheint uns zu fixieren. Doch ihre Augen sind, wie in einem schlechten Traum, überwachsen. Mit den beiden Eingangsfiguren sind zentrale Themen von Alemanis sehr durchdachtem Parcours gesetzt: unser Verhältnis zu Tieren, genereller zur Natur; die Vielfalt der Geschlechter und Ethnien; aber auch die Frage, was wir sehen können und wollen und wo wir vielleicht blind sind.

Zeitkapseln der Avantgarde

Cecilia Alemani, bekannt als Kuratorin der High Line Art in New York, wo Kunst in einem Park gratis für alle zugänglich ist, bindet diesen Themenkreis kunsthistorisch an den Surrealismus zurück. Schon der Biennale-Titel «The Milk of Dreams» verrät diesen Bezug. Er ist einem Kinderbuch der britisch-mexikanischen Künstlerin Leonora Carrington entliehen, die 1938 als eine der wenigen Frauen an der «Exposition Internationale du Surréalisme» in Paris teilnahm. Fünf kabinettartige Präsentationen bilden das Rückgrat der Schau. Als Zeitkapseln entlarven sie zugleich die blinden Flecken der historischen Avantgarden: Der stark von der aufkommenden Psychoanalyse geprägte Surrealismus war weniger an einer Emanzipation als an einer Ausbeutung des weiblichen Körpers interessiert. Futurismus und Bauhaus propagierten technophile, funktionalistische Ideale, die individuelle Bedürfnisse kleinschrieben.

Glänzend gelingt Alemani diese Blickauffrischung in der ersten dieser Kapseln, «The Witch’s Cradle», nach einem experimentellen Kurzfilm von 1943. Wir tauchen ein in eine an Entdeckungen reiche feministische Echokammer des frühen Surrealismus, begegnen Künstlerinnen, Fotografinnen, Tänzerinnen und Performerinnen, die damals an der Entwicklung neuer künstlerischer Alphabete arbeiteten. Neben inzwischen bekannteren Namen wie denen von Carrington, Claude Cahun oder Dorothea Tanning wird hier ein Reigen von Künstlerinnen vorgestellt, die von der männlich geprägten kunsthistorischen Heldensaga an den Rand gedrängt wurden oder sich geografisch an der Peripherie befanden. Schon mal von Toyen gehört, von Amy Nimr oder Antoinette Lubaki?

Alemani hat erkannt, dass sich gerade eine feministische Revision des Surrealismus ideal dafür eignet, einen schon länger eingeleiteten Perspektivenwechsel in der Kunst auf den Punkt zu bringen: weg vom männlich dominierten Kanon, weg vom Eurozentrismus, weg vom Anthropozentrismus als Fixierung auf den Menschen als Krone der Schöpfung. Wenn 2002 die grosse Überblicksschau «La Révolution surréaliste» im Pariser Centre Pompidou den Surrealismus noch als Veranstaltung eines Männerzirkels präsentierte, der lustvoll den Körper der kopf- oder gesichtslosen Frau sezierte oder diverse Fantasien darauf projizierte, sind inzwischen die beteiligten Frauen ins Zentrum des Interesses gerückt. Davon zeugte zuletzt die Parade der surrealistischen Künstlerinnen «Fantastic Women» in der Frankfurter Schirn 2020. Umgekehrt legt die Münchner Ausstellung «Gruppendynamik» im Lenbachhaus derzeit den Finger auf den im negativen Sinn exklusiven Charakter der vermeintlich revolutionären Künstlerkollektive der Avantgarde. Dafür muss sie nur die Gruppenfotos dieser Kollektive nebeneinander aufhängen: Frauen kann man darauf mit der Lupe suchen.

Formalistische Matrix

Die Essenz ihrer ersten Zeitkapsel, die Befragung körperlicher Identität und Integrität, entfaltet Alemani nun in alle Richtungen. Ihr spektakulärster Entscheid, fast nur Künstlerinnen zu zeigen, verblüfft vor allem deswegen, weil man diese polemisch gemeinte Schlagseite beim Rundgang gar nicht auf Anhieb bemerkt; zumal Alemani einen weiteren Fokus auf bisher kaum bekannte künstlerische Positionen legt, viele mit Bezügen zu ethnischen Minoritäten. Mit der Folge, dass man sich geradezu mit einer Explosion der Farben, Materialien und insbesondere Formen wie auch einer enormen Bandbreite an künstlerischen Haltungen und Ausdrucksweisen konfrontiert sieht. Das ist so visuell reich wie anstrengend. Hört auf zu basteln, möchte man da und dort ausrufen.

Angesichts des künstlerischen Feuerwerks offenbaren sich auch erste Schwachstellen des kuratorischen Rückbezugs auf den Surrealismus: Der Surrealismus wird hier zu einer formalistischen Matrix, zum historischen Musterbuch, das nun bis zum Abwinken mit aktuellen Beispielen fortgeschrieben wird. Dadurch wird die gezeigte Gegenwartskunst über weite Strecken in das Wahrnehmungskorsett eines Zombie-Surrealismus gezwängt: als stottere sie nur das surrealistische Vokabular nach, als legitimiere sie sich einzig dadurch. Wobei der Brückenschlag vom Cadavre exquis, dem zerstückelten und deformierten Körper der Surrealisten, zu den Cyborgs von heute und überhaupt zu den diversen künstlerischen Anleihen bei der Biotechnologie noch am überzeugendsten ausfällt. Auch die surrealistische Aufwertung von Träumen und volkstümlichen Formen füllt bis heute die schöpferische Vorratskammer.

Empfindsam und verletzt

Allerdings bestätigt Alemanis Rückgriff auf den Surrealismus nicht nur aktuelle Tendenzen in der Kunst, die man schon fast als Mainstream bezeichnen möchte. Vor allem macht er mit Blick auf den Zustand unserer Welt etwas ratlos. Sicher, auch die künstlerischen Avantgarden reagierten auf den Zusammenbruch einer Weltordnung. Sie widersetzten sich politischen Kräften wie Kapitalismus, Militarismus, Faschismus, die den Menschen nur als Rädchen – oder störendes Sandkorn – im Getriebe sahen. Sie taten dies, indem sie das anarchische, schöpferische Individuum auf den Schild hoben. Die Fantasie an die Macht – mit dieser Devise haben sie jenem Siegeszug des «Kreativen» und der «Kreativität» den Weg gebahnt, der inzwischen kaum noch einen Lebensbereich ausspart und zum neoliberalen Mantra gehört.

Deswegen stehen wir heute an einem anderen Punkt als der Surrealismus damals. Soziolog:innen wie Andreas Reckwitz haben darauf hingewiesen, dass sich unsere kreativ ausdifferenzierte «Gesellschaft der Singularitäten» die kritische Frage gefallen lassen muss, was nach dem Egotrip und der Kenntnisnahme aller möglichen Diversitäten unsere Gesellschaften noch zusammenhält. Im Dialog mit Alemanis Konzept zelebrieren etliche der von ihrem Generalthema inspirierten Länderpavillons das oft theatralisch inszenierte Stelldichein der hoch empfindsamen, verletzten und marginalisierten Subjekte und Gruppierungen. Am extremsten vielleicht Rumänien mit einer ungewöhnlichen Präsentation zur Sexualität eines stark Behinderten.

Der Akzent liegt so auf den diagnostischen und manchmal zauberischen Fähigkeiten der Kunst. Darin liegt schliesslich eine ihrer grössten Stärken. Aber kann sie darüber hinaus der Gesellschaft noch Impulse geben? Und wenn ja, welche? Eine gewisse Erschöpfung, die sich beim Besuch der Biennale einstellt, mag nicht nur mit der Überdosis an emotional aufgeladener «Egokunst» zu tun haben, sondern auch damit, dass sie solchen Fragen eher aus dem Weg geht.

Als Illustration zu dieser Ermattung mag einem der offizielle Pavillon der Ukraine vorkommen. Dort präsentiert der Künstler Pawlo Makow seine hintersinnige minimalistische Installation «Fountain of Exhaustion. Aqua Alta». Ein modulares Röhrensystem verteilt einen Wasserstrahl immer breiter, bis unten nur noch ein Rinnsal ankommt. Weniger philosophisch verhalten, sondern als plakativer Solidaritätsappell versteht sich die von der ukrainischen Regierung und der Pinchuk-Stiftung unterstützte Ausstellung in der Scuola Grande della Misericordia.

Die Werke einiger Superstars der Kunst, wie Damien Hirsts Schmetterlinge auf einer ukrainischen Flagge, wirken müssig neben Beiträgen aus der Ukraine, vor allem der Fotogalerie mit den zuerst 2014/15 in einem Magazin publizierten Porträts von Müttern gefallener Ukrainer. Das geht an die Nieren. Ob hingegen Lesia Khomenkos monumentale Porträts ukrainischer Kämpfer – darunter ihr Mann – in Sneakers, die sie im Stil des Sozialistischen Realismus gemalt hat und die das Smartphoneformat zitieren, einmal zu den künstlerischen Ikonen dieses Krieges zählen werden? Vielleicht – insofern sie uns daran erinnern werden, wie wir seine Schrecken so schockiert wie hilflos in Echtzeit auf Social Media verfolgt haben.

Man verlässt Venedig etwas beklommen. Vielleicht, weil es einem dieses Mal bewusster wird denn je, welch ein Privileg es ist, mitten in diesem Krieg in ein künstlerisches Füllhorn zu blicken, das die Lust am Schöpferischen und an der individuellen Freiheit feiert. Vielleicht, weil wir gerade angesichts des Zivilisationsbruchs Russlands überdeutlich sehen, wie gefährdet diese Freiheit ist.

Die 59. Biennale Arte ist noch bis am 27. November 2022 in Venedig zu besichtigen. www.labiennale.org