Kunst in Venedig: Wer könnte unsere alte Welt verdauen?
Wider alle Reinheitsgebote und erstaunlich hoffnungsfroh: Die Kunstbiennale in Venedig findet Inspiration bei einem kannibalistischen Manifest. Und bringt viele willkommene neue Gäste in die Stadt.
Eine ausgeweidete Leiche sei Venedig, schimpft der Kunstkritiker aus Berlin, der alle zwei Jahre pünktlich zur Eröffnungswoche im Tross mit Kolleginnen und Galeristen durch die bekannteste aller Kunstbiennalen zieht. Überhaupt führt die fieberhafte Overtourism-Berichterstattung dazu, dass die halbe Welt eine sehr schlechte Meinung von dieser Stadt hat – meistens per Ferndiagnose. Dabei hat Venedig weiterhin eine Aura alter Grösse, die weder Rollkoffergeratter noch Staus auf der Rialtobrücke ganz zerstören können; dazu ruhige malerische Ecken mit flatternder Wäsche über engen Kanälen und insgesamt viel vor sich hin bröckelnden Liebreiz vor höchstens einer Handvoll Tourist:innen.
Aus einem dieser wie aus der Zeit gefallenen Quartiere kann man die Kunstbiennale wie durch einen Hintereingang betreten, um gleich im Länderpavillon der Volksrepublik China zu landen. Dort reibt man sich verwundert die Augen. Es herrscht die gedämpfte Stimmung einer Wellnesslandschaft, gespickt mit Kunst: ein sanft leuchtender Pagodenturm aus Knitterpapier und alte chinesische Malerei, neu interpretiert von zeitgenössischen Künstler:innen. In einer der Hallen der alten Militäranlage Arsenale ersteht so ein mythisch bereinigtes China, in dem Tradition und Moderne widerstandslos verschmelzen. Der Pavillon funktioniert wie eine Art Schleuse, in der die im Programmtext zur Biennale beschworene «Welt der mannigfachen Krisen» einfach abgestreift werden kann: Kunst als säuberlich aufgeräumte Ablenkung.
Das dazu gestellte Motto «Atlas: Harmony in Diversity» muss all den unterdrückten Minderheiten und Regimegegner:innen im Riesenland wie ein brutaler Witz vorkommen. Und, Absicht oder nicht, «Harmonie in der Vielfalt» verniedlicht auch das Hauptmotto dieser 60. Biennale: «Fremde überall». In zahlreiche Sprachen übersetzt, schwebt es als farbige Leuchtschrift über dem brackigen Werftwasser: «Stranieri ovunque», «Her yerde yabancı», «Wszędzie obcy». Der Slogan überschreibt nicht nur die Ausstellungen, sondern passt auch zu Venedig: zur historischen Welthandelsstadt wie zur touristischen Gegenwart.
Münztelefone und «Schwanensee»
Zugleich öffnet «Fremde überall» gedankliche Echoräume für die politische Gegenwart wie für zeitgenössische Kunst. «Fremd(e) sind wir uns selbst», erklärte die bulgarische Psychoanalytikerin Julia Kristeva bereits Anfang der neunziger Jahre: eine Aufforderung, das namenlose Unbekannte zuallererst in der eigenen Seele zu erkennen und schätzen zu lernen, anstatt es in (rassistische) Ressentiments umzumünzen. Oder mit dem ursprünglichen Ideengeber Sigmund Freud: Was wir als fremd taxieren, ist oft etwas Vertrautes, das verdrängt wurde. Und umgekehrt: Gerade dem vermeintlich Ureigenen, dem Heimeligen, wohnt ein – sehr produktiver – unheimlicher, unruhiger Kern inne.
Die Probe aufs Exempel kann man im usbekischen Pavillon machen. Auch hier werden Tradition (alte Webkunst) und Moderne (KI-Technologie) verschränkt, aber eben nicht zu einer harmonischen Einheit verschmolzen. Vielmehr wachsen aus einer intuitiv natürlich wirkenden Verwandtschaft von Pixeln und alten Stoffmustern neue Sujets und eigenwillige Abweichungen. Durch ein Labyrinth aus blauen Vorhängen tastet man sich hinein in ein komplexes Geflecht aus Fingerzeigen, die darauf verweisen, dass gerade in einer traditionalistischen Kultur der weibliche Backstagebereich eine eigene subversive Kraft entfalten könnte: beim kollektiven Weben von Mustern wie bei der Überlieferung von Geschichten. Man muss bloss aufgeweckt bleiben: «Don’t Miss the Cue» (Verpass den Einsatz nicht) nennen die Kuratorinnen aus Taschkent ihren Beitrag.
Ein paar Pavillons weiter lässt die türkische Künstlerin Gülsün Karamustafa drei auffällige Kronleuchter von der Decke der alten Waffenkammer des Arsenale baumeln. Sie symbolisieren die drei Weltreligionen und sind aus ausgemustertem Muranoglas zusammengesetzt: Das vermählt alten Pomp mit dem Flair einer hippen Bar – wenn da nicht die martialische, aggressive Irritation des Stacheldrahts wäre, mit dem alle drei Leuchter umwickelt sind. Ihnen entgegen streben schmutzig weisse, scheinbar antike Säulen, die sich aber als hohle, billige Plastikkörper entpuppen, ohne jede Gravitas. Eingerahmt sind sie mit dünnen Metallgestellen, ob als Schutzzaun oder Stütze, bleibt unklar. Dazwischen kastrierte Schubkarren ohne Handgriffe und Räder, gefüllt mit noch mehr farbigen Glasscherben. Ein irritierendes ästhetisches und materielles Durcheinander, mit dem Karamustafa – etwas platt und doch eindringlich – die Hohlheit und die Zerbrechlichkeit der gegenwärtigen Welt vorführt.
Konkreter ist da der Beitrag von Österreich, gerade auch, was unheimliche Brechungen im Vertrauten angeht. Gestaltet wurde er von der russischen Künstlerin Anna Jermolaewa, die 1989 als politisch Verfolgte aus der Sowjetunion nach Wien kam, wo sie ihre ersten Tage und Nächte auf einer Bahnhofbank verbrachte. Für eine Videoarbeit ist sie, Jahrzehnte später, dorthin zurückgekehrt. Die Bank wurde unterdessen mit zusätzlichen Trennvorrichtungen noch unbequemer gemacht, schlafen kann man darauf nicht mehr: Auch der öffentliche Raum ist immer öfter wie von Stacheldraht umwickelt, wird gegen das Verweilen rücksichtslos aufgerüstet.
Neben dem Flüchtlingslager, in dem Jermolaewa als Nächstes untergebracht war, standen Telefonkabinen, die in Venedig nun als Readymades ausgestellt sind. Anfang der neunziger Jahre wären wohl die meisten an solchen Münztelefonen achtlos vorbeigegangen; für die Geflüchteten gehörten sie zum Wichtigsten überhaupt, waren existenzielle Verbindungslinien in die Heimat. Als Herzstück zeigt Jermolaewa «Probe für Schwanensee», eine Performancearbeit mit der ukrainischen Balletttänzerin und Choreografin Oksana Serheieva. Zu Sowjetzeiten wurde bei politischen Unruhen, Unpässlichkeiten der Herrschenden oder orchestrierten Machtwechseln jeweils tagelang ununterbrochen Tschaikowskys Ballett «Schwanensee» im Fernsehen gezeigt. Jermolaewa greift auf diese Erinnerung aus ihrer Jugend zurück, um nun ihrerseits den Regimewechsel zu proben.
Totems statt Tabus
Die oft gescholtenen Länderpavillons sind somit keineswegs nur mehr oder weniger geglückte autonome Ausstellungskapseln oder von jeder Ambivalenz gesäuberte nationale Selbstdarstellungen. Die ambitionierten unter ihnen schlagen inhaltliche Brücken zu den Sammelausstellungen des brasilianischen Biennale-Kurators Adriano Pedrosa im Arsenale und in den Giardini. Nebst seinem «Fremde überall»-Motto stützt sich Pedrosa dabei vor allem auf ein Manifest von 1928, in dem eine südamerikanische Moderne entworfen wurde.
In diesem «Manifesto Antropófago» singt der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade mit selbstironischem Witz ein Loblied auf den Kannibalismus – wohl wissend, dass allein schon das Wort vielen kalte Schauer über den Rücken jagt. De Andrade versteht den Kannibalismus allerdings streng intellektuell als Kulturtechnik, um sich Geschichte(n) und Wissen der fremden, «angeblich kultivierten Völker» einzuverleiben und für die eigene Entwicklung fruchtbar zu machen, ohne falsche Ehrfurcht, mit Lust an der Pointe und der eklektischen Vermischung: «Nieder mit Goethe»! Oder auch: «Mich interessiert nur, was mir nicht gehört.»
Ziel dieser «kannibalistischen Impfung»: selbstbewusst und eigenständig bleiben; sich weder dem Christentum noch dem Patriarchat unterordnen, mit ihren «in Dosen konserviertem Bewusstsein», ihrer «Ignoranz» und «Fantasielosigkeit». Aus den einverleibten Tabus der verklemmten christlichen Zivilisation sollen befreite Totems entstehen: neue Sinnbilder, uneindeutige Zeichen, magische Objekte – schlicht: Kunst.
Tatsächlich hätten die Kritiker:innen, die nach der Eröffnung mit Ablehnung oder auch bloss blasiertem Desinteresse auf Pedrosas Ausstellungen reagierten, gut daran getan, dieses kurze Manifest zu lesen, das seit 1991 in einer englischen Übersetzung vorliegt. Auch die oft eindimensional und geschichtsvergessen geführten Appropriationsdebatten der vergangenen Jahre hätten definitiv von einer Impfung mit diesem raffinierten Text profitiert. Und all den zivilisationsmüden Linken mit Tendenz zur Verklärung indigener Lebensweisheit möchte man dieses Manifest sowieso ans Herz legen.
Ekstase in Farbe
Aber wie übersetzt sich solcher Kannibalismus nun in eine Ausstellung? Am deutlichsten kann man das in Pedrosas historischer Auslegeordnung sehen: je ein Saal mit Porträts und einer mit Abstraktionen, zwei Grundpfeilern der Kunstgeschichte. Im Porträtflügel wähnt man sich einen Moment lang in einer dicht gehängten, altmodischen europäischen Gemäldegalerie – bis überall kleine und grössere Verschiebungen auffallen: eine breitere Vielfalt der Gesichter und Gestalten, der Kleider, der Farben, der künstlerischen Technik und Ästhetik. Vor allem aber bleibt man an den Gesichtsausdrücken hängen. Ein Dialog der Blicke entsteht zwischen Besucher:innen und Porträtierten. Sie schauen uns an: wachsam, intensiv, nicht unfreundlich.
Nachdem sich die klassische Moderne ausgiebig und oft uneingestanden im Globalen Süden inspiriert hat, findet man hier einige neckische Rückaneignungen: Porträts und Abstraktionen, gemalt oder geformt von mittlerweile verstorbenen chinesischen, türkischen und südafrikanischen Künstler:innen – unverkennbar im Stil von Gaugin, Picasso oder Giacometti. Es sind Imitationen, Rückeroberungen und zugleich Erweiterungen des europäischen Kanons. Auch ein paar gewitzte Totemzitate sind darunter. Die meisten dieser Künstler:innen werden zum ersten Mal überhaupt an der Kunstbiennale ausgestellt, obwohl es sich keinesfalls nur um Unbekannte handelt.
Pedrosa recherchiert seit zwei Jahrzehnten zur Kunst des Globalen Südens. Die Auswahl, die er jetzt in Venedig präsentiert, ist nicht zuletzt selbst ein cleverer Kannibalenakt, der Versäumnisse und blinde Flecken sichtbar macht und wenigstens ein Stück weit repariert. Ein reichhaltiger neuer Fundus wird in die Biennale-Tradition einverleibt, nimmt zukünftige Auflagen der Kunstschau in die Verantwortung. Hinter die hier präsentierte Vielfalt sollte man nicht wieder zurückfallen.
Zwischen die Positionen aus dem Globalen Süden und anderen Randzonen der etablierten Kunstwelt mischt Pedrosa Aussenseiter:innen aus Ländern wie der Schweiz und Österreich: etwa Aloïse Corbaz, die beinahe ihr ganzes Leben lang in psychiatrischen Anstalten interniert war und mangels anderer Materialien auch mal mit Zahnpasta und Stofffäden arbeitete; oder den eigenbrötlerischen Landschaftsmaler und Autodidakten Leopold Strobl. All diese Randfiguren und einst Kolonisierten blicken mit dem geschärften Blick der Ausgeschlossenen auf die Macht- und die Mehrheitsgesellschaften zurück. Sie fordern die Hegemonie heraus, oft schlicht dadurch, dass sie andere Dinge sehen oder Dinge, die man zu kennen glaubt, etwas anders sehen.
Insgesamt gibts an dieser Biennale also weniger harte Provokationen, dafür eine grosszügige, nachdrückliche Erweiterung des Horizonts. So etwa in einer der überzeugendsten zeitgenössischen Umsetzungen des kannibalistischen Konzepts: Jeffrey Gibson, Nachfahre von Choctaw- und Cherocee-Natives, verbindet im Pavillon der USA indigene, queere und Technoästhetik zu einer beschwingten Feier, die in ihrer überwältigenden Farbigkeit wie eine Droge wirkt. Und natürlich ist jemand wie Gibson unterdessen längst kein Aussenseiter des Kunstbetriebs mehr.
Entwaffnend in ihrem Überschwang, verbindet diese Kunst kühn Tradition, Popkultur, Musik und Tanz zu einem ganz eigenen Stil, der auch abgekämpfte Besucher:innen zum Lachen und Mitwippen bringt. Alte Ornamente entwickeln ein Eigenleben, ähnlich wie im usbekischen Pavillon. Gibsons Identität und seine Rolle als nationaler Repräsentant sind dabei so gebrochen und verwinkelt wie die bunten Buchstaben, die sich ums ganze Gebäude spannen. Erst auf den zweiten Blick entziffert man sie als Einstieg in die US-Verfassung: «We hold these truths to be self-evident.» Die zweite Satzhälfte, dass alle Menschen gleich seien, muss man ergänzen – oder selber neue Wahrheiten finden, die uns heute – noch oder wieder – zusammenhalten könnten.
Palazzo mit viel Ballast
Keinen Pavillon, sondern gleich einen ganzen Palazzo hat der in Island lebende Schweizer Künstler Christoph Büchel bis an die Decke gefüllt. Als ewiger Aussenseiter hat Büchel die Biennale schon ein paarmal aufgemischt – 2019 etwa mit einem kontrovers diskutierten Flüchtlingsschiff, auf dem tausend Afrikaner:innen gestorben waren und das er ohne weitere Erläuterung als «Barca Nostra» im Arsenale ans Wasser stellen liess. Diesmal interveniert er von aussen, mit einer Arbeit in der Fondazione Prada, die nicht Teil der offiziellen Biennale ist. «Museum für Schuld(en) und Krieg» steht auf einer Tafel, die man wie so vieles in dieser Ausstellung leicht übersieht. Die Gegenwart erscheint hier als Abstellkammer, so chaotisch eingerichtet wie bis ins kleinste Detail durchdacht: unsere alte Welt als überfülltes, bankrottes Pfand- oder Brockenhaus, mit einem zerbombten Keller und einem Eingang, an dem man zuerst achtlos vorbeispaziert – weil er wie einer dieser halbseidenen Ankauf- und Pfandläden für Gold und andere Wertsachen gestaltet ist.
Ist man erst einmal drin im morbiden Durcheinander, könnte man stundenlang verweilen und hätte trotzdem nicht alles gesehen. Jedes scheinbar achtlos daliegende Heft, jeder Bildschirm, jeder Zettel und jede Schachtel ist ein Indiz. Bloss wofür? Erklärungen kann man viele finden, alles schiesst hier zusammen: Kunstmarkt, Krieg, Kolonialismus und Bankenwesen. Oder etwas konkreter: Roulettetisch, Bankomat und Museumsdepot; Wunderglaube und Waffen; Kapelle und Gericht; uralte Kanzleiakten, zerfledderte Mickymaus-Taschenbücher und eine sechsbändige italienische Geschichte des Zweiten Weltkriegs; Waschmaschinen und ein gesprengter Tresor; Fischernetze und Schwimmwesten, Kuscheltiere, Prothesen und Handschellen für Sklaven. Dazwischen auch viel namhafte Kunst, die im umliegenden Krempel unterzugehen droht.
Es ist das Wimmelsinnbild einer gigantischen Schuld- und Schuldenwirtschaft. Alles wirkt verstaubt und dem Untergang geweiht. Auch neuere Entwicklungen sind als Wiedergänger des immer gleichen Alten einsortiert: Der trostlose Serverraum von Bitcointradern etwa, mit einem Kühlschrank voller Redbull-Dosen, wirkt genauso abgehalftert wie die alten Münzen und die Stellwand mit rätselhaften, in Stein gemeisselten Hieroglyphen.
Büchels Palazzo liefert die perfekte dystopische Kulisse für eine Biennale, die nach neuen Welten Ausschau hält. Diese ganze angehäufte, verpfändete Masse schreit nach einem Neuanfang. Oder sollen wir mit dem Manifesto Antropófago sagen: nach einer kreativen Einverleibung durch eine intelligentere Zivilisation, die womöglich erst noch entstehen muss?
Die 60. Biennale Arte dauert noch bis zum 24. November 2024: www.labiennale.org/en/art/2024. Ebenfalls bis zum 24. November 2024 ist Christoph Büchels «Monte di Pietà» zu sehen: www.fondazioneprada.org. Bleiben Sie länger als einen Tag.