Architekturbiennale: Eine Zukunft gewinnen

Nr. 38 –

Keine Feier steingewordener Egos, sondern eine ganz körperliche Auseinandersetzung mit unserem versehrten Planeten. Die Ausstellung in Venedig bietet ein Erweckungserlebnis.

begehbare Skulptur «Kwaeε» von Adjaye Associates aus Ghana
Eine «soziale Skulptur»: «Kwaeε» von Adjaye Associates aus Ghana. Foto: Andrea Avezzù, © La Biennale di Venezia

Die diesjährige Architekturbiennale in Venedig weckte grosse Erwartungen. Lesley Lokko, die erste Kuratorin afrikanischer Herkunft, hat nichts weniger als ein «Labor für die Zukunft» eingerichtet. Mit der Ambition «to do things differently», die Dinge anders zu machen, hat sie die Teilnehmer:innen ermutigt, ihre Arbeiten an zwei Prinzipien zu orientieren: Dekolonialisierung und Dekarbonisierung.

Eingeladen waren nicht wie üblich die Stararchitekt:innen des Westens, die noch bis vor wenigen Jahren vor allem ihre eigenen Beiträge für das aus Zement gebaute globale Wachstum der Städte zelebriert hatten. Lokko schuf mit der Biennale vielmehr eine Bühne für zahlreiche junge Architekturbüros aus dem Globalen Süden, Architekt:innen aus der Diaspora – ein wiederkehrendes Thema der Biennale – und Architekt:innen mit Heimaten im Plural.

Eine Aussage über diese Architekturbiennale von Venedig taucht in der Berichterstattung und in Gesprächen immer wieder auf: «Die Ausstellung behandelt vieles, aber nicht Architektur.» Lokko zieht diesem Vorwurf ohne viel Aufhebens die Zähne. Für sie greift das konventionelle Verständnis von Architektur ohnehin viel zu kurz. Die Engführung, was als Architektur zu gelten habe und was nicht – und vor allem auch, wer die Autorität beansprucht, diesen architektonischen Geltungsbereich abzustecken –, betrachtet Lokko als das eigentliche Problem und nicht die vermeintlichen Grenzüberschreitungen der Biennale. Aber was ist und was soll Architektur in Zeiten von Klimakatastrophe und postkolonialer Selbstfindung darstellen und bewirken?

Die Ablösung der Schlafstadt

Tatsächlich ist der Ruf der Architektur, zerrieben zwischen Bauindustrie und Starkult, heute ramponiert. Die gebaute Alltagsarchitektur erweist sich meist als tauglich und erfüllt ihren Zweck, ganz gleich, ob dieser nun Wohnen, Arbeiten oder schlicht Rendite heisst. Gleichzeitig begegnet uns die gebaute Umwelt zunehmend stumm: Sie spricht uns nicht an, und wenn sie sich sprechend gibt, dann bleibt die Sprache für die meisten unverständlich. Debatten über Architektur werden von Fachleuten für Fachleute geführt. Die Öffentlichkeit nimmt kaum Anteil, obwohl sie ständig von Architektur umgeben ist, sich in der gebauten Umwelt bewegen muss und von dieser durch das urbanisierte Territorium geführt wird.

Wenig überraschend vielleicht, dass Architektur in der hiesigen Öffentlichkeit primär im Modus des Ärgers oder der Wut verhandelt wird. Aufrufe, die hässlichsten Gebäude der Schweiz zu bestimmen – meist von Onlinemagazinen initiiert, die auf Klicks aus sind –, finden regelmässig mehr Aufmerksamkeit als das Für und Wider der letzten Architekturwettbewerbsentscheidung. Die Biennale bietet Raum und zahlreiche Veranstaltungen, um über dieses in Schieflage geratene Verhältnis von Architektur und Gesellschaft nachzudenken.

Zugegeben: Die Selbstgeisselung der Architekt:innen und ihre Klage, von der Gesellschaft nicht verstanden und zu wenig wertgeschätzt zu werden, hat eine lange Tradition und kann durchaus als konstitutives Merkmal der Disziplin selbst verstanden werden. Die Architekturbiennale in Venedig funktioniert(e) deshalb immer auch als eine Art Standortbestimmung der Architektur und ihres Verhältnisses zu drängenden Fragen der Gegenwart. Meist ist die Zusammenkunft von der Hoffnung getragen, dass der ersehnte Befreiungsschlag endlich gelingen und die Architektur endlich ihren Ort finden möge, an dem die Selbst- und die Fremdwahrnehmung stimmig zusammenfallen.

Die erste Ausgabe der Biennale fand 1980 statt und war ganz der Feier postmoderner Architektur verschrieben. Ihr Titel: «Die Gegenwart der Geschichte». Der Kurator Paolo Portoghesi schuf mit seinen Mitstreiter:innen ein räumliches Erlebnis, indem er im Arsenale, dem zentralen Ausstellungsareal in der historischen Schiffswerft Venedigs, eine doppelte Fassadenreihe im Massstab 1 : 1 einbauen liess. Die Fassadenelemente wurden von zwanzig Architekt:innen oder Architekturbüros entworfen und fassten eine Strasse – die «Strada Novissima» –, an der die Besucher:innen entlanggehen konnten.

Die Strasse als Ort der Begegnung, der Kultur und der Debatte konnte wiederentdeckt werden. Damit war die städtebauliche Position der Postmoderne markiert: als Gegenstück zu den fliessenden, oftmals von der Strasse abgewandten Räumen der wiederaufgebauten Schlafstädte der Nachkriegszeit. Gleichzeitig konnte Portoghesi zeigen, worin er die Bedeutung der Architektur sieht: gefasste, lesbare Räume zu schaffen, in denen sich Menschen aufhalten und bewegen können.

Ohne Katastrophenfetisch

Auch die aktuelle Biennale wird spazierend erlebt. In den lang gezogenen Räumen des Arsenale sind Beiträge unter der Regie des Kurator:innenteams versammelt. In den Giardini – südöstlich des Arsenale – nimmt die Ausstellung einen etwas anderen Charakter an. In 29 Länderpavillons finden sich hier sehr unterschiedliche Beiträge, die sich teils mehr am Konzept der Kuratorin ausrichten – wie der britische Pavillon mit seinem Fokus auf die Rituale und Praktiken diasporischer Gemeinschaften –, teils auch weniger, wie der Schweizer Beitrag, der sich mit dem Thema Nachbarschaft befasst. Der zentrale Pavillon des Gartens, kuratiert wiederum von Lokko und ihrem Team, bringt einige der wichtigsten Vertreter:innen afrikanischer Architekturen unter ein Dach. Eines wird schnell klar: Der Spaziergang führt nicht wie an der ersten Biennale entlang einer von Bühnenbildnern erstellten Architekturspielstrasse.

Der Planet Erde und die Architektur stehen heute an einem anderen Punkt. Das drängendste Problem ist nicht die verloren geglaubte Architektursprache, sondern dass die Menschen langsam den Boden unter den Füssen verlieren. Und nirgends wird dieses Gefühl so anschaulich vermittelt wie in der langsam im Meer versinkenden Lagunenstadt Venedig. Nicht den Baudenkmälern gebührt unsere Aufmerksamkeit, sondern der Sorge, wie und wo Leben umgeben von zunehmend bedrohlichen – und bedrohten – Landschaften denkbar bleibt. Die Ausstellung im Arsenale und in einigen Länderpavillons zeigt es deutlich: Um eine Zukunft zu gewinnen, müssen wir die Blickrichtung ändern. Wir müssen uns dem Boden zuwenden, auf dem wir stehen. Es gilt, auf dem Boden der Tatsachen zu landen und uns – im Anschluss an den französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour – als Teil von ihm zu begreifen. Denn die Beschädigung des Bodens lässt auch uns nicht unversehrt.

Der Gang durch die Hauptausstellung öffnet den Blick auf berauschende, oftmals kontrastierende, berührende und irritierende Dokumente der gegenwärtigen sich stetig weiter urbanisierenden Erde. Einige Beiträge blicken zurück, legen unbekannte Geschichten frei: David Wengrow und Eyal Weizman erkunden mit «Forensic Architecture» etwa archäologische Stadtstrukturen in der Ukraine, die auf egalitäres Zusammenleben verweisen. Andere Beiträge wenden sich möglichen Zukünften zu und versuchen, Stimmungen und Atmosphären zu antizipieren. Die beinahe spirituellen Bilderwelten in Liam Youngs Film «The Great Endeavor» über den Rückbau von CO₂-Emissionen stehen für einen radikalen, aber gleichzeitig zutiefst melancholischen Optimismus. Sie bleiben hängen und verstören. Die meisten Beiträge nehmen Alltägliches in den Blick, wie etwa die wunderbaren Fotografien von Festus Jackson-Davis: Diese zeigen Strassenszenen und Märkte in Ghanas Hauptstadt Accra.

die Arbeit «Umbrella» von Festus Jackson-Davis zeigt einen Markt in Ghanas Hauptstadt Accra
«Umbrella» von Festus Jackson-Davis zeigt einen Markt in Ghanas Hauptstadt Accra.

Die Ausstellung kommt ohne Brachialdidaktik und Katastrophenfetisch aus. Lokko und ihr Team sind zu tief im bebenden Boden der postkolonialen und postmigrantischen Realität verankert, als dass sie sich leichtfertig auf die spektakulären und empörenden Bilder stürzen würden, die in Europa gern herumgereicht werden. So wurde etwa Lokkos Team in Accra von der italienischen Botschaft das Visum für die Einreise nach Italien verweigert. Es bestünden Zweifel über die Absicht, Italien nach dem Besuch der Ausstellung, für die sie monatelang gearbeitet haben, wieder zu verlassen.

An der Eröffnung hielt Lokko fest, dass diese Geschichte die Ausstellung aber nicht dominieren sollte. Das sei schlicht die Realität Europas: Afrikanische Kunst und Kultur seien willkommen – die Menschen, die diese Kultur praktizierten und repräsentierten, nicht. Das sei zwar herzzerreissend, aber nicht neu, zumindest für die neunzig Prozent der Weltbevölkerung, die sowieso nie die Möglichkeit haben würden, nach Venedig zu reisen. Lokko hat natürlich recht: Es wäre zu einfach, sich auf diese Anekdote zu stürzen, wenn es doch genau darum gehen sollte, gegen die Ohnmacht der Gegenwart vorzugehen und für eine Zukunft zu arbeiten.

Den Blick radikal verschieben

Tatsächlich geht die Ausstellung weit darüber hinaus, Architektur mit Überlegungen und Analysen zur Klimaerhitzung und zu den drohenden gesellschaftlichen Verwerfungen anzureichern. Es geht auch nicht einfach darum, Architektur (wieder) neu als Architektur plus Gesellschaft plus Klima zu denken. Die Ausstellung ist viel radikaler: Lokko leitet uns an, den Blick und die Art und Weise, wie wir die Umwelt, die Architektur wahrnehmen, komplett zu verschieben. Sie schafft das nicht mit Worten und eloquenten akademischen Argumentationen, obwohl es diese – angenehm wohldosiert – auch gibt.

Diese Biennale packt vielmehr an einem unerwarteten Ort zu: bei den Gefühlen und ihrem Medium, dem Leib. Dabei geht es nicht um kitschige Sentimentalität, sondern um eine Zugewandtheit zum Hier und Jetzt und zu all seinen beseelten Körpern, Elementen, Naturen und Erzählungen. Die Ausstellung drängt uns, die Zentralperspektive zu verlassen, liegen gebliebene Steine aufzuheben, in zahl-, aber nicht namenlose Augen zu blicken, angetrieben von der Überzeugung, dass wir, wenn wir die Zukunft gestalten wollen, alles bestehende Wissen und alle menschlichen Erfahrungen berücksichtigen müssen. Wenn die Dinge auseinanderfallen, müssen wir allem, was umherschwirrt und uns während des Falls begegnet, Beachtung schenken.

Die Hauptausstellung beginnt in einem abgedunkelten Raum. Links an der Wand mit silberner Schrift auf blauem Grund ein Statement der Kuratorin zur «blue hour»: «Die blaue Stunde ist manchmal durchzogen von einer feinen Melancholie, oder sie kann ein Moment zwischen Traum und Aufwachen sein. Manche begreifen sie auch als Moment der Hoffnung.»

Das Licht im Raum ist allerdings zu fahl, der Lichteinfall zu schief, um die Sätze ohne körperliche Verrenkungen lesen zu können. Von weiter hinten aus dem Dunkeln locken tiefe Töne, schwere Sätze. Auf einer hohen Leinwand über den Köpfen der Besucher:innen trägt Rhael «Lionheart» Cape, ein britischer Künstler und Poet, sein Gedicht «Those with Walls for Windows» vor. Das Video ist schwarzweiss, Lionheart trägt eine Binde über seinen Augen, Beats hinterlegen sein Gedicht über diejenigen mit Wänden anstatt Fenstern: «Wenn die Architektur keine Gefühle mittransportiert, dann führt sie in die Psychose.» Dazu in weissen Lettern: «Gefühle sind vorübergehende Räume.»

Links eine weitere dunkle Öffnung. Eindringliche Rhythmen füllen den Raum. Eine kleine Videoinstallation ist mittendrin auf eine schiefe im Sand stehende Ellipse projiziert. Das Video «A Dance of the Mangroves» des nigerianischen Künstlers Dele Adeyemo zeigt Männer, die geschmeidig in runden Bewegungen tanzen. Im Erläuterungstext an der Wand steht: «Der Tanz der Mangroven öffnet ein Tor durch die Wahrsagungstafel (opon ifa) in die Lebenswelt der Mangrovenbäume der Lagune von Lagos.»

Von oben, von unten, von der Seite, mitten im Licht und aus dem Halbdunkel dringen Botschaften, Wörter, Farben, Musik ein. Ein synästhetisches Erlebnis, das berührt, unter die Haut geht. Ein Übergang von der Welt, aus der wir kommen, in die Welt, in die uns Lokko und ihr Team schicken. Dabei sollen alle unsere Sinne angeregt werden, nicht nur die Augen und der Verstand sind gefragt, sondern unser ganzer Leib als Medium. Wir werden zugänglich für Gefühle, Blickwinkel, Positionen und Fragmente, die ohne den Körper als Resonanzraum gar nicht in uns eindringen könnten.

Aufgekratzt und porös

Und tatsächlich: Es funktioniert, es könnte gar nicht anders funktionieren. Die Fülle an Ausstellungsobjekten, Filmen, Bildern, Modellen, Zeichnungen, Texten und Musik beansprucht den gesamten Körper. Berührende Momente, die wortlos haften bleiben, wechseln sich mit bild- und sprachgewaltigen Beiträgen ab. Die versehrten und synthetischen Landschaften, die Stephanie Hankey, Michael Uwemedimo und Jordan Weber von der Harvard Graduate School of Design zeigen, bringen die Umwälzungen des Nigerdeltas in einen spannungsreichen Dialog mit den infrastrukturell überformten Naturräumen des Mittleren Westens der USA. Dass Aufbruch, Abreise und Rückkehr nicht nur ein Thema des Globalen Südens sind, zeigen die Filme über die Dualchas Architects aus Schottland. Sie erzählen eine Geschichte über die Verbindungen von Orten, Menschen, Sprachen und Kulturen, wie diese Raum und Zeit immer wieder dehnen und in spezifischen Architekturen ihren Ausdruck finden können. Aber auch architektonische Modelle fehlen nicht.

Ausschnitt aus dem gewobenen Triptychon «Bengali Song» von Arinjoy Sen aus London
Ausschnitt aus dem gewobenen Triptychon «Bengali Song» von Arinjoy Sen aus London. Foto: Marco Zorzanello, © La Biennale di Venezia

Im Zentralpavillon im Garten erhalten Adjaye Associates aus Ghana viel Raum, um ihre Projekte zu zeigen, darunter handfeste, problemorientierte Architektur wie der kostengünstige und standardisierte Bau von Spitälern. Kleine, beinahe schüchterne Beiträge weisen auf andere Möglichkeiten von Architektur hin: Arinjoy Sen aus London zeigt anhand eines gewobenen Triptychons, wie Architektur gemeinsam mit lokalen Kunsthandwerker:innen entstehen und vermittelt werden kann. Bemerkenswert auch die feine und detaillierte Kontrastierung nomadischer Architekturen, wie sie Le Laboratoire d’Architecture im Grenzgebiet zwischen Tunesien und Algerien einerseits und auf den offiziellen Standplätzen für Fahrende in der Schweiz andererseits rekonstruiert haben. Alles in allem viel zu viel; vor allem nachdem das Sensorische mit Absicht aufgekratzt und die leibliche Hülle zusätzlich porös gemacht wurde.

Produktive Überforderung

Die Architekturbiennale dokumentiert die Erde, das Bewegliche, die losen Enden, das Wechseln der Gewänder, die Undurchschaubarkeit der urbanen Umgebung, die ein eigenes Leben führt, in dem alles situativ zueinander in Beziehung gesetzt wird. Die Regelhaftigkeit, die entsteht und wieder verschwindet, nur um sich am nächsten Tag in leicht verrückter Form wieder zu zeigen. Wissen darüber wird gesammelt, wie menschliche Körper, die gebaute und die belebte Welt zusammenwirken und gegenseitig aufeinander angewiesen sind, um weiterbestehen zu können. Der leibliche Mensch wird von allen Seiten gezeigt: anmutig, stolz, schmerzverzerrt, traurig, aufbegehrend, unterdrückt, profan, feierlich. Und all diese Seiten sind mit dem Raum, den Materialien, den Architekturen verstrickt. Dualismen lösen sich auf. Höchste Zeit, jetzt, wo es den meisten an den Kragen geht.

Fragen und Probleme werden nicht mehr in Einzelteile aufgespaltet und zerlegt. Im Gegenteil: Dinge werden kumuliert, aufgetürmt und mit Stimmungen aufgeladen. Beispielhaft und wunderbar in Szene gesetzt etwa vom Architekturbüro Flores & Prats aus Barcelona mit seiner Installation «Emotional Heritage», in der sich Modelle, Pläne und Skizzen mehrfach überlagern und so die Zeit in der Raumgestaltung sichtbar wird.

Anlässlich der ersten Biennale 1980 verstand sich die Architektur als jene Disziplin, die Räume aus sich selbst heraus herzustellen in der Lage ist. Rund vierzig Jahre später präsentiert Lokko ein anderes, ein realistischeres Verständnis von Architektur: als Kombination unterschiedlicher Praktiken, die räumliche Kompositionen und Anordnungen gestalten inmitten humaner und nichthumaner Akteure, die immer bereits da sind und eine Sprache und eine Stimme haben. Aufgabe ist es nur, sich auf diese Stimmen einzulassen. Der Raum ist dann immer perspektivisch, entstanden nicht aus singulären Interventionen, sondern als Ergebnis von Bewegungen und Beziehungen. Damit wird ein Spektrum von Architekturpraktiken eröffnet, das von der Gestaltung abstrakter Räume über die Gemeinschaftsarbeit im Raum bis zur Vergangenheitsbewältigung einer forensischen Architektur reicht. Die Geschichte erhält so eine viel dringlichere Präsenz. Nicht als Steinbruch architektonischer Referenzen, sondern als leiblich eingeschriebene und gegenwärtig wirksame Raumschicht.

Überfordert das die Architektur? Klar. Aber man ist nicht realistisch, wenn man keine Fantasie hat. Denn verbunden mit dieser Öffnung ist auch ein grosses Versprechen. Erst wenn die Architektur nicht mehr um eigene Grenzziehungen kreist, wird sie anschlussfähig. Denn dann geht es nicht mehr um kategoriale Fragen – ist das Architektur oder nicht? –, sondern darum, welches Wissen versammelt werden muss, um wieder sichereren Tritt zu fassen.

Philippe Koch ist Professor an der ZHAW in Winterthur mit Schwerpunkt Stadtpolitik und urbane Prozesse.

Die 18. Architekturbiennale von Venedig läuft noch bis am 26. November 2023: www.labiennale.org.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen