Documenta: Zum Abschuss freigegeben

Nr. 23 –

Der Antisemitismusstreit um die Weltkunstschau in Kassel ist endgültig eskaliert. Das könnte ihre Existenz gefährden.

Opfer ritualhafter Vorwürfe: Mitglieder der künstlerischen Teams und der Kurator:innengruppe Ruangrupa. Foto: Nicolas Wefers

Das Ende der Documenta? Bis vor kurzem schien das undenkbar. Die 1955 gegründete Weltkunstschau im nordhessischen Kassel zählt zu den festen Grössen im Kunstbetrieb. Nun sieht sie sich einer diskursiven Zangenbewegung gegenüber, die erstmals ihre Existenz gefährden könnte.

Im Februar 2019 war die überraschende Berufung des indonesischen Kollektivs Ruangrupa als Kurator:innen der 15. Ausgabe, die am 18. Juni eröffnet werden soll, wohlwollend aufgenommen worden. Der grosse Ärger begann diesen Januar, als ein anonymer Beitrag im Blog «Bündnis gegen Antisemitismus Kassel» der «documenta fifteen» (d15), wie sich die Schau diesmal nennt, Judenfeindlichkeit vorwarf.

Der Vorwurf gegen die an die Documenta eingeladene palästinensische Gruppe «The Question of Funding», die in einem nach einem arabischen Nationalisten benannten Kulturzentrum in Ramallah arbeitet, erwies sich zwar bald als haltlos. Trotzdem schrieb die Presse von FAZ bis «Zeit» den tendenziösen Text eines anonymen Antideutschen hoch. Die antideutsche Fraktion der Linken identifiziert auch marginale Israelkritik als Wiederkehr des eliminatorischen Antisemitismus, der zum Holocaust führte.

Erregung im Vorfeld

So malte die deutsche Publizistik das Schreckgespenst einer antisemitischen Verschwörung in Kassel an die Wand. Plötzlich gerieten nicht nur Teile des künstlerischen Teams der Documenta unter Verdacht, sondern sogar die Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Die Grünen-Politikerin hatte 2019 die vom Deutschen Bundestag verabschiedete Resolution gegen die Bewegung «Boycott, Divestment and Sanctions» (BDS), die das Existenzrecht Israels infrage stellt und zum Boykott des Staates aufruft, abgelehnt. Roths Begründung: Nicht alle BDS-Unterstützer:innen seien automatisch antisemitisch.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland schaltete sich ein, reklamierte Mitsprache bei der Auswahl der Teilnehmer:innen einer eilends anberaumten, dann wieder abgesagten Podiumsdiskussion zum Thema. Den Gipfel erreichte die Kampagne, als das Springer-Blatt «Die Welt» die d15 als Beleg dafür nannte, wie die «woke Kunstwelt» überhaupt israelische Künstler ausgrenze.

Noch jede Documenta generierte im Vorfeld Erregungspotenzial. Mal ist es ein erratisch agierender Kurator, mal sein abstruses Konzept. Daran kann es diesmal nicht gelegen haben, dass es plötzlich so schien, als wäre die Documenta ausgerechnet von der liberalen Öffentlichkeit zum Abschuss freigegeben.

Auch nicht an der ziemlich vagen «Lumbung»-Idee von Ruangrupa. Die Reisscheune, die das Wort bezeichnet, steht als Metapher für eine Ökonomie gemeinschaftlicher Ernte. Wie die fröhliche Truppe das in Kunst übersetzen würde, ist selbst wohlmeinenden Beobachter:innen schleierhaft.

In dem Streit verschlingen sich diverse Fäden der deutschen Debattenkultur zu einem gordischen Knoten. Das Ritualhafte der Vorwürfe erinnerte an die – ihrerseits sehr kontroverse – Kritik des australischen Historikers A. Dirk Moses an den «Hohepriestern des Katechismus der Deutschen», dessen fünfte Überzeugung laute: «Antizionismus ist Antisemitismus».

Die Bemerkung der FAZ zu Beginn des Streits, bei dem «überwiegend aus Angehörigen des Islam» bestehenden Kollektiv dürfte «ein Bewusstsein für jüdische Belange eher schwach entwickelt sein», offenbarte dagegen einen rassistischen Unterton. Manifest wurde dieser in den Slogans «Freiheit statt Islam!», «Keine Kompromisse mit der Barbarei!», «Islam konsequent bekämpfen!», mit denen Unbekannte im April das «ruruHaus», das Hauptquartier der Kurator:innen im Kasseler Stadtzentrum, beklebten. Wenig später legten andere mit den Schmierereien «187» und «Peralta» nach – die Zahlenfolge steht in Kalifornien für Mord, Isabel Peralta ist eine spanische Rechtsextremistin.

Die Unduldsamkeit, mit der ein Teil der Öffentlichkeit ein spezifisch deutsches Dispositiv wie die BDS-Resolution militant zum Kriterium für akzeptable Kunst erhebt, muss Künstler:innen des Globalen Südens wie intellektueller Rassismus vorkommen. Und nur wenige Jahre nach den Morden am Kasseler Kioskbesitzer Halit Yozgat und am CDU-Politiker Walter Lübcke, dem ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten, sowie dem Terroranschlag im hessischen Hanau steht wieder die Gefahr eines mörderischen Rassismus im Raum – diesmal gegen Künstler:innen.

Was ist mit der Nazivergangenheit?

Spätestens an diesem Punkt avanciert die Documenta zum Punchingball eines verworrenen Konflikts, in dem sich Postkolonialismus, Erinnerungspolitik und linker wie rechter Anspruch auf intellektuelle Deutungshoheit überkreuzen. In dieser Auseinandersetzung agiert Ruangrupa unbeholfen. Einerseits setzt das Kollektiv auf eine aktivistische Kunst. Andererseits wies es Kritik an seinem Konzept und den Einladungen mit dem Hinweis auf die Kunstfreiheit zurück.

Zudem verzichtete die Gruppe darauf, die in den vergangenen drei Jahren ans Tageslicht beförderte Nazivergangenheit der Documenta in ihrer Schau zu thematisieren. Mit der Entdeckung der NSDAP- und SA-Mitgliedschaft von Werner Haftmann, neben Arnold Bode einer ihrer legendären Gründerväter, ist der Mythos von der Documenta als kulturellem Neuanfang nach 1945 geplatzt. Auch deswegen zeigt das Symbol des besseren Deutschland tiefe Risse.