Documenta: Eine Debatte über das koloniale Konstrukt
Der Antisemitismus-Vorfall an einer der weltgrössten Kunstschauen zeigt: Die Erkundung der gemeinsamen europäisch-indonesischen Geschichte von Antisemitismus und Kolonialismus ist überfällig.
Am 21. Juni entschied die Leitung der Documenta 15 in Kassel, ein riesengrosses Wandbild des indonesischen Künstler:innenkollektivs Taring Padi abzuhängen. Zu Recht wird kritisiert, dass das Werk mit dem Titel «People’s Justice» zwei Figuren mit antisemitischen Stereotypen zeigt. Allerdings interessierte sich bisher kaum ein:e Kritiker:in in Deutschland oder der Schweiz dafür, was dieses Kunstwerk sonst noch zum Ausdruck bringt: den Kontext der indonesischen Diktatur von 1966 bis 1998. Oder das schwere Erbe der Kolonialzeit, mit dem die zweitgrösste Demokratie der Welt zu kämpfen hat. Dieses Desinteresse ist bedauerlich, denn Kolonialgeschichte, Dekolonisierung, Diktatur, Demokratie und indonesischer Antisemitismus haben auch sehr viel mit unaufgearbeiteter deutscher und europäischer (inklusive Schweizer) Geschichte zu tun.
Genozid und Putsch
Die Diktatur – wie Taring Padi in einer Pressemitteilung festhält – formt das Weltbild der indonesischen Gesellschaft bis heute. Sie begann 1966, zu jenem Zeitpunkt, als Westdeutschland allmählich die eigene NS-Geschichte aufarbeitete und sich in der Schweiz erste zaghafte Kritik an der «geistigen Landesverteidigung» regte. Deutschland entwickelte sich in der Folge zur «Meisterin der Vergangenheitsbewältigung». Zeitgleich duldeten die demokratische Bundesrepublik und die neutrale Schweiz den Militärputsch in der noch jungen Republik Indonesien. Der Putsch folgte einem Genozid, den die indonesische Armee und Paramilitärs an zwischen 500 000 und drei Millionen Chines:innen und (vermeintlichen) Kommunist:innen verübt hatten. Verantwortlich für diese Gewalt war General Suharto. Er übernahm 1968 formell die Macht. Im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges wurde er von den USA, Israel, Deutschland, Grossbritannien und anderen Staaten des Westens unterstützt. Gegen aussen präsentierte Suharto Indonesien als kapitalistisches Bollwerk gegen den Kommunismus. Gegen innen gewann ein autoritärer Islam an kulturellem Einfluss. Hinzu kamen dreissig Jahre totalitärer Staatspropaganda, auch in den Schulen.
Wenn man sieht, wie schwer sich ein «freies» Land wie die Schweiz bis heute tut, sich kritisch mit der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg zu befassen (Stichwort Bührle-Sammlung), kann man sich vorstellen, wie das im diktatorischen und postdiktatorischen Indonesien ist: Eine kritische Aufarbeitung des Genozids von 1965/66 fand nicht statt. Noch weniger Priorität im Schulcurriculum hat bis heute europäische Geschichte, namentlich die des Nationalsozialismus, des Holocaust und des Antisemitismus.
Kurz: Das Geschichtsbild einer ganzen Generation von Indonesier:innen ist vom Erbe der Diktatur und von islamischem Konservativismus geprägt. Dagegen kämpfen Taring Padi und andere indonesische Kunstschaffende an. In seinem Wandbild von 2002 griff das Kollektiv dabei auf eine in gewissen antikapitalistischen Bewegungen verbreitete antisemitische Bildsprache zurück. Nach einer ersten fahrlässigen Stellungnahme haben sie sich für ihre Bildsprache entschuldigt (vgl. «Auf der Arche der inspirierten Solidarität» ). Die harsche Kritik in Deutschland habe ihnen vor Augen geführt, dass ihnen vor zwanzig Jahren der Unterschied zwischen Israelkritik und Antisemitismus zu wenig klar gewesen sei. Das kann man als Geste der Bereitschaft zum wechselseitigen historischen Lernen deuten.
Unabhängigkeit als Herausforderung
Für Indonesien und die meisten Kolonien war der NS-Staat nicht primär eine Bedrohung, sondern mit der Hoffnung auf die Befreiung von kolonialer Fremdherrschaft verbunden. Diese Hoffnung erfüllte sich für Indonesien, als NS-Deutschland im Jahr 1940 die Niederlande besetzte. Das erlöste indirekt Indonesien von der holländischen Kolonialmacht, die den Archipel über 400 Jahre gewaltsam beherrscht hatte. Indonesien erklärte sich nach kurzer japanischer Besatzung 1945 für unabhängig, musste diese Unabhängigkeit jedoch in einem brutalen Dekolonisierungskrieg bis 1949 gegen die rückkehrenden Niederländer erkämpfen. Die Unabhängigkeit war und ist bis heute eine riesige Herausforderung – denn Indonesien ist ein koloniales Konstrukt. Die Republik vereint 1340 ethnische Gruppen, unzählige Sprachgemeinschaften und Religionen. Sogar der Name «Indonesien» ist eine europäische Erfindung. Er stammt vom deutschen Ethnologen Adolf Bastian.
Ein kleines Land wie die Niederlande konnte ein riesiges Land wie Indonesien nur mit grosser Unterstützung zahlreicher europäischer Helfer:innen erobern und ausbeuten. Die wichtigste Unterstützung des niederländischen Imperialismus kam dabei immer aus dem deutschsprachigen Europa. Die deutsche (und auch schweizerische) Involvierung im niederländischen Imperialismus ist bis heute jedoch kaum bekannt. Es gibt zum Beispiel kein einziges Buch zur Thematik.
Fakt ist jedoch: Zwischen 1816 und 1900 rekrutierte die niederländische Kolonialarmee vierzig Prozent ihrer europäischen Soldaten ausserhalb der Niederlande. Die grössten Kontingente kamen aus Deutschland und Belgien, gefolgt von Frankreich und der Schweiz. Auch wissenschaftliches Know-how zur Erforschung und Ausbeutung indonesischer Ressourcen und Menschen kam aus ganz Europa. Deutschsprachige Forscher, Ärzte oder Ingenieure gehörten zu den wichtigsten Unterstützern und Profiteuren des niederländischen Imperialismus. Auf Plantagen in Sumatra und Java war ausserdem auch viel Kapital aus der Schweiz und Deutschland investiert.
Die starke europäische Präsenz im kolonialen Indonesien seit dem 16. Jahrhundert ging mit dem Export europäischer «Kultur» einher, wozu auch Antisemitismus und Rassismus gehörten. In unzähligen deutschen Quellen der Kolonialzeit lesen wir über die Gleichsetzung «betrügerischer» chinesischer Händler mit europäischen Juden; oder über die Faszination deutscher «Rassenforscher» für die enorme «rassische» Vielfalt im weitläufigen Archipel. Dieses koloniale Erbe prägt die junge indonesische Republik bis heute. Vieles davon manifestiert sich, zumindest für historisch interessierte Betrachter:innen, auch im Werk indonesischer Künstler:innen.
Keine javanische Erfindung
Zu diesem kolonialen Erbe gehören leider auch Formen von Antisemitismus. Diesen muss man immer und überall verurteilen. Gleichzeitig gilt es, ihn aber auch in seiner geografischen und kulturellen Spezifik und seiner historischen Genese zu entziffern. Antisemitismus in Indonesien ist keine javanische Erfindung. Er ist das komplexe Erbe eines kolonialen, inklusive deutschen, kulturellen Exports, den sich heutige Indonesier:innen angeeignet und den sie transformiert haben.
Für Deutschland bietet der «Antisemitismus-Skandal» die Gelegenheit, ein bis heute ignoriertes Stück der eigenen Kolonialgeschichte kennenzulernen sowie über die Rolle der jungen Bundesrepublik beim diktatorischen Suharto-Regime nachzudenken. Indonesien steht hingegen vor der Aufgabe, ein kritischeres Bild vom NS-Regime zu entwickeln, wie schon nur ein Blick in den indonesischen Wikipedia-Artikel zum Thema zeigt: Er zweifelt die Opferzahlen des Holocaust an, schweigt sich über den Antisemitismus aus und enthält keine Hinweise zu antisemitischen Kontinuitäten weltweit, inklusive Indonesien.
Es besteht also akuter Bedarf an wechselseitigem historischem Lernen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn Europa bei Irritationen aus dem Süden nicht bloss moralische Lektionen erteilt, sondern bereit ist, sich selbst zu hinterfragen.
Monique Ligtenberg, Doktorandin an der ETH Zürich, und Bernhard C. Schär, Professor an der Universität Lausanne, haben mehrfach zur indonesisch-europäischen Kolonialgeschichte publiziert.
Weiterer Artikel zum Thema: «Kunst der Kollektive: Auf der Arche der inspirierten Solidarität»