Das Schicksal der Jesid:innen: Als seien sie bloss Gäste

Nr. 32 –

Vor zehn Jahren verübte der Islamische Staat im Nordirak einen Genozid an den Jesid:innen. Viele Überlebende wohnen bis heute in Provisorien. So wie die Teenagerin Silva Ali.

Portraitfoto von Silva Ali
Silva Ali war vier Jahre alt, als ihre Familie flüchten musste. Sie fühlt sich zuhause in Sina, hört koreanischen Pop und möchte in Kurdistan studieren.

Auf den ersten Blick ist Sina ein Dorf wie viele andere in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Ein- bis zweistöckige Häuser schmiegen sich an Hügel, deren Grün im Lauf des Sommers zu Gelb wird. Zwischen den Wegen weiden Schafe und Ziegen, gehütet von den Kindern des Ortes. Wenn die Nacht aufzieht, erscheinen helle Sterne am Firmament. Keine Lichtquelle am Boden stört ihr Leuchten, die meisten Häuser in Sina bleiben dunkel. Denn nachts bricht die staatliche Stromversorgung ab, und die meisten Familien haben keinen Dieselgenerator, der sie in dieser Zeit mit Strom versorgen könnte.

Schaut man im Licht des Tages genauer hin, merkt man: Dieser Ort sieht anders aus als die Nachbardörfer. Die Häuser sind fast alle unverputzt, die Wände bestehen aus nackten, grauen Betonziegeln. Sina wirkt, als seien seine Bewohner:innen bloss Gäste.

Wie viele Häuser im Dorf riecht auch das von Silva Ali nach Zement. Sie teilt es mit ihren Eltern und den beiden Schwestern. Anstelle eines Ziegel- oder Flachdachs schützt eine behelfsmässige Konstruktion aus Holzbalken und Plastikplanen vor Sonne und Regen. Hoch oben balancierend, versucht der Vater der Familie gerade, das Dach zu reparieren. Im Frühling habe es hereingeregnet, sagt die Tochter und wirkt peinlich berührt.

Traumatische Erinnerung

Wie die anderen Bewohner:innen des Dorfs sind Silva Ali und ihre Familie aus der irakischen Region Sindschar geflüchtet; sie gehören der ethnisch-religiösen Gemeinschaft der Jesid:innen an – Sina ist ein Flüchtlingscamp in Form eines Dorfs, seit nunmehr zehn Jahren. Die Menschen, die dort wohnen, stammen aus verschiedenen Orten in Sindschar, zwei Dinge aber einen sie: die Flucht vor der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und dass sie sich eine Rückkehr in ihre Heimat nur schwer vorstellen können. In Sindschar wartet kaum etwas auf sie: zerstörte Häuser und Dörfer sowie die traumatische Erinnerung an den Völkermord, der vor zehn Jahren begonnen hat (vgl. «Der Genozid von 2014»).

Der Genozid von 2014

Am 3. August 2014 marschieren Truppen des Islamischen Staats (IS) in die Region Sindschar im Nordirak ein, wo zu der Zeit über eine halbe Million Jesid:innen leben. Die Terrormiliz tötet bis zu 10 000 Männer und verschleppt 7000 Frauen und Kinder, die zu Opfern von sexueller Sklaverei und Menschenhandel werden. Der IS zerstört zahlreiche religiöse Stätten.

Hunderttausende Jesid:innen leben heute als Binnenvertriebene im Nordirak. Die Vereinten Nationen qualifizieren das Vorgehen des IS als Genozid, weil es auf die Vernichtung der Jesid:innen als Ethnie und Glaubensgemeinschaft angelegt war.

Die meisten jesidischen Geflüchteten im kurdischen Nordirak leben nicht in Dörfern wie Sina, sondern in Camps für Binnenvertriebene. Immer wieder hatte die Zentralregierung in Bagdad angekündigt, die Camps schliessen zu wollen, diesen Sommer sollte es tatsächlich so weit sein. Das Hin und Her ist Ausdruck eines Machtkampfs: Die irakische Regierung möchte die Autonomie der Kurd:innen beschneiden und versucht daher, ihnen die Einnahmequellen zu entziehen. Auch die Camps, die Hilfsgelder aus dem Ausland erhalten, gehören dazu.

Die Menschen in Sina können zwar nicht aus dem Dorf vertrieben werden. Doch sind sie abhängig von den Besitzer:innen der Häuser, in denen sie gratis oder für eine sehr geringe Miete wohnen. Ebenso sind sie auf die Infrastruktur angewiesen, die von der Regionalregierung und dem nahen Geflüchtetencamp Scharia zur Verfügung gestellt wird. An Infrastruktur mangelt es grundsätzlich. So kam die Kehrichtabfuhr nicht nach Sina, bis ein kleiner deutscher Verein Mülltonnen und deren Abholung organisierte. «Hand für Hand» betreibt im Dorf auch ein Bildungszentrum, in dem die Kinder beispielsweise Englischunterricht erhalten.

Silva Ali spricht gut Englisch, perfektes Arabisch sowie ihre Muttersprache, den kurdischen Dialekt Kurmandschi. Sie wirkt aufgeweckt und klug – eine typische Teenagerin: Ali besucht derzeit die Mittelstufe und liebt koreanischen Pop, allen voran die Gruppe Blackpink, und nimmt gern Videos von sich und ihren Freundinnen beim Tanzen auf. Ihre Schule liege im Geflüchtetencamp Scharia, erzählt sie, nur wenige Minuten Autofahrt von Sina entfernt. Auf welche Schule soll sie gehen, sollten das Camp und dessen Einrichtungen schliessen müssen?

Silva Ali und ihre Familie haben allerdings noch ein anderes Problem: Vielleicht müssen sie das Dorf bald verlassen. Der Besitzer des Hauses möchte aus ihrem provisorischen Zuhause einen Stall für seine Ziegen und Schafe machen. «Wohin wir dann gehen sollen, weiss ich nicht», sagt Ali. Nur in einem ist sie sich sicher: nicht zurück nach Sindschar.

Als die Familie vor dem IS aus ihrem Heimatdorf Dukari an der irakisch-syrischen Grenze flüchten musste, war Silva Ali vier Jahre alt. Sie hätten Glück gehabt, erzählt sie, dass sie es noch vor Beginn der Kämpfe zum Ufer des Tigris geschafft hätten. Auf der anderen Seite wartete das sichere Kurdistan. Gemeinsam hätten sie in einem Boot übergesetzt, seien danach von einem Dorf zum anderen, einer Behausung zur nächsten gezogen. Bis sie von Sina hörten.

Der Ort steht beispielhaft für die Verfolgung von Minderheiten in der Region: In den achtziger Jahren zwang das Regime von Saddam Hussein die Kurdinnen und Jesiden in Kurdistan und weiteren Teilen des Irak, von den Hügeln in die Ebene zu ziehen – in sogenannte «mudschamma’t», Planstädte. Damit wollte es der Verbreitung von aufständischem Gedankengut zuvorkommen. Dörfer wie Sina wurden bis auf die Grundmauern zerstört. Vor knapp zehn Jahren baute die kurdische Regionalregierung sie dann als Rohbau wieder auf – eine Art Wiedergutmachung für Saddam Husseins Verbrechen, sagen einige in der Region.

zwischen halbfertigen Häusern in Sina weiden Schafe
Neue Heimat: Zwischen halbfertigen Häusern in Sina weiden Schafe.

Zerstörtes Vertrauen

Während Silva Alis Familie ihr Haus wohl bald verlassen muss, hat Mahsen Chuder mehr Glück. Der Besitzer des Hauses, in dem er mit seiner Frau, den drei Kindern und seinen Eltern wohnt, lebt schon seit Jahrzehnten in Deutschland. Der sei ein guter Mann, sagt Chuder. Er hofft, für immer in Sina bleiben zu dürfen. Seine Familie hat sich wohnlich eingerichtet: Ein Vorhang ersetzt die fehlende Innentür zwischen Salon und Rückzugsort, ein Teppich bedeckt den rauen Fussboden. Auf dem Boden liegen Sitzkissen, daneben laden akkubetriebene Lampen an einer Steckdose. Auch Chuder will niemals nach Sindschar zurück.

Als er den Kämpfern des IS zum ersten Mal begegnet, ist Chuder siebzehn Jahre alt und arbeitet auf einer Baustelle in der Stadt Ba’adsch im südlichen Teil von Sindschar: Im Frühling 2013 entführen sie ihn von seiner Arbeitsstelle. Seine persönliche Schreckensgeschichte mit der Miliz erzählt er so: Eines Morgens hält ein Pick-up vor der Baustelle. Als Chuder die Kämpfer sieht, versteckt er sich, bis er nichts mehr hört, und verlässt sein Versteck wieder  – und läuft dem IS direkt in die Arme. Die Kämpfer ziehen ihn ins Auto und verschleppen ihn nach Syrien.

Munther Andscho mit seinem Sohn Mahsen Chuder
Munther Andscho hat 80 000 Dollar Lösegeld bezahlt für seinen Sohn Mahsen Chuder.

Chuders Vater Munther Andscho, ein stattlicher, ruhiger Mann in traditionellem jesidischem Gewand, übernimmt das Wort, um die Geschichte weiterzuerzählen: Ein Mann habe ihn angerufen und eine Million US-Dollar Lösegeld gefordert. «Nach langen Verhandlungen konnte ich es schliesslich auf 80 000 Dollar drücken.» Die ganze Familie habe zusammengelegt. Ein befreundeter Muslim überbrachte anschliessend das Geld; er selbst begab sich als Pfand in die Hände der Miliz, bis Chuder freigelassen wurde. Die Familie hatte Glück: Schon nach wenigen Tagen konnte der Vater seinen Sohn wieder in die Arme schliessen. Als der IS ein Jahr später ihrem Dorf näher kommt, zögert die Familie keine Sekunde und flieht.

Gir Zerk, das Heimatdorf der Familie, liegt nur wenige Minuten Autofahrt von der muslimisch geprägten Stadt Ba’adsch entfernt. Als die Terrormiliz in Gir Zerk eingefallen sei, erzählt Andscho, hätten sich ihr einige Bewohner:innen von Ba’adsch angeschlossen. Auch deshalb kann er sich eine Rückkehr nicht vorstellen: Abgesehen von der noch immer sichtbaren Zerstörung in Sindschar, der unzureichenden Infrastruktur und den fehlenden ökonomischen Möglichkeiten ist das Vertrauen in die Nachbar:innen nachhaltig zerstört.

Bäuer:innen ohne Land

Jene, die in Sina eine Bleibe fanden, haben Glück gehabt, das sagen sie selbst. Die Situation der Menschen in den überfüllten Geflüchtetencamps ist deutlich schwieriger. Doch viele in Sina arbeiten als Tagelöhnerinnen oder Taxifahrer – nur wenige haben eine feste, gut bezahlte Stelle. In Sindschar waren die Jesid:innen oft Bäuer:innen, doch in Kurdistan gehört ihnen kein Land, das sie bestellen könnten.

Gerade die Jüngeren in Sina sind aber auch hoffnungsvoll: Nach ihrem Schulabschluss möchte Silva Ali die Universität in der nahe gelegenen Grossstadt Dohuk besuchen. An ihre Heimat kann sie sich kaum noch erinnern. Ali fühlt sich zu Hause in Kurdistan – und in Sina, auch wenn ihr Zuhause unverputzt ist.