Sri Lanka : «Wir haben ein grosses Problem mit Straffreiheit»
Sri Lanka befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise. Seit Monaten demonstrieren die Menschen gegen die Regierung. Dabei würden auch Forderungen zur Aufarbeitung von Kriegsverbrechen immer lauter, sagt die Menschenrechtsanwältin Bhavani Fonseka.
WOZ: Bhavani Fonseka, welche Auswirkungen hat Sri Lankas Wirtschaftskrise auf Ihren Alltag?
Bhavani Fonseka: Wir sind alle von der Krise betroffen, nur das Ausmass ist unterschiedlich. Auch ich stehe in langen Schlangen, um lebensnotwendige Dinge zu kaufen. Aber natürlich bin ich als Anwältin in einer privilegierteren Position, mein Einkommen bricht aufgrund der Krise nicht weg. Viele Menschen haben jedoch ihr Einkommen verloren, und für viele ist ungewiss, ob sie ihren Job im nächsten Monat noch haben werden. Wir alle machen uns grosse Sorgen, was in den nächsten Wochen auf uns zukommen wird. Wir wissen nicht, ob wir uns nächsten Monat noch Lebensmittel leisten können oder ob Grundnahrungsmittel wie Milchpulver und Reis überhaupt noch in den Läden zu finden sein werden.
Beeinflusst die Krise auch das Gesundheitssystem?
Ja. Die Grundversorgung kann nicht mehr gewährleistet werden. Vor zwei Monaten hat eines der grössten Spitäler im Land eine Warnung herausgegeben, dass nicht mehr genügend Medikamente vorhanden seien, um Operationen durchzuführen. Zahlreiche Ärzt:innen haben sich ähnlich geäussert. Es gibt Berichte über steigende Unterernährung. Sorgen bereiten vor allem schwangere Frauen und kleine Kinder. Die Leute haben Angst, krank zu werden. Operationen werden verschoben. Dies bedeutet auch, dass Menschen irgendwann sterben werden, weil sie keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Situation.
Westliche Medien berichten auch von Benzinknappheit. Wie wirkt sich das auf die Menschen aus?
Sie warten zwölf, fünfzehn Stunden in einer Schlange, um Treibstoff zu kaufen. Vielleicht erreichen wir bald den Punkt, wo wir uns nicht mehr fortbewegen können. Die Leute können dann nicht mehr zur Arbeit, die Kinder nicht mehr in die Schule gehen. Sri Lanka hat kein gut ausgebautes öffentliches Verkehrssystem. Zudem ist es hier sehr heiss und feucht, zu Fuss gehen ist also keine Option. Vielleicht können irgendwann auch Krankenwagen nicht mehr betrieben werden. Viele Menschen haben sich jetzt Velos gekauft, obwohl es in Sri Lanka keine Velokultur gibt. Und jetzt sind dem Land sogar die Velos ausgegangen.
Ist die Krise in Sri Lanka die Konsequenz der Misswirtschaft der Regierung, oder spielen globale Faktoren wie die Pandemie und der Krieg in der Ukraine eine Rolle?
Die Pandemie oder auch der Krieg in der Ukraine, durch den die Nahrungsmittel- und die Energiepreise stark angestiegen sind, haben zur Krise beigetragen. Aber der Prozess begann mit individuellen politischen Entscheidungen. Kurz nachdem Gotabaya Rajapaksa 2019 Präsident geworden war, führte er Steuersenkungen ein. Diese haben die Staatseinnahmen stark reduziert. Jetzt sehen wir die Folgen. Die Steuersenkungen nutzten den Reichen und den Unternehmen. 2021 wiederum verbot der Präsident quasi über Nacht chemische Düngemittel. Der Entscheid hatte drastische Konsequenzen für den Agrarsektor und die Ernährungssicherheit, weil die Ernten viel tiefer ausfielen. Zum ersten Mal werden Menschen möglicherweise verhungern, weil wir nicht genug Reis oder Gemüse produzieren. Und die Regierung hat kein Geld, um diese Produkte zu importieren.
Das Land hat sich über die letzten Jahre aufgrund zahlreicher Infrastrukturprojekte auch bei China verschuldet. Welche Rolle spielt China in Sri Lankas Schuldenkrise?
Die chinesische Regierung gewährte zahlreiche Kredite für umfangreiche Infrastrukturprojekte als Teil seines globalen Wirtschaftsgrossprojekts «Belt and Road Initiative». Etwa für einen Hafen, einen Flughafen oder ein Kongresszentrum. All diese Projekte wurden im Kernland der Rajapaksa-Familie, im Hambantota-Distrikt im Süden des Landes, gebaut. Die Infrastrukturprojekte haben jedoch keine Einnahmen gebracht. Die Bevölkerung hatte nichts davon. Der Flughafen wird beispielsweise als leerster Flughafen der Welt bezeichnet. Es stellt sich also die Frage, wer eigentlich davon profitierte. Es gibt zahlreiche Korruptionsvorwürfe und Anschuldigungen, dass China politische Kampagnen von Politiker:innen wie den Rajapaksas finanziert hat, die diese Projekte befürworteten. Hier stellt sich auch die Frage nach Chinas Rolle, seinem Einfluss und nach der Kontrolle, die es in Sri Lanka ausübt. Es sind aber nicht nur chinesische Kredite, die uns in die Schuldenkrise getrieben haben. Staatsanleihen machen den grössten Anteil der Schulden Sri Lankas aus, und wir haben auch Schulden bei multilateralen Institutionen oder bei Japan und Indien.
Aufgrund von Korruption und Wirtschaftskrise protestieren die Menschen seit Monaten gegen die Regierung. Was sind ihre Forderungen?
Die Demonstrant:innen fordern den Rücktritt von Präsident Gotabaya Rajapaksa, die Entmachtung der Rajapaksa-Familie und einen Systemwechsel, der eine neue politische Kultur, Rechenschaftspflicht für begangene Verbrechen und ein Ende der Korruption mit sich bringen soll. Überall im Land, auch im Kernland der Rajapaksas im Süden, gibt es seit über fünfzig Tagen Proteste gegen die Regierung. Die Demonstrationen waren weitgehend friedlich, aber am 9. Mai kam es zu Gewaltausbrüchen, als Anhänger des damaligen Premierministers, Mahinda Rajapaksa, Demonstrant:innen angriffen. Diese zündeten daraufhin Dutzende Häuser von Politiker:innen an. In der Folge mussten Mahinda Rajapaksa und das Kabinett zurücktreten.
Wer sind die Rajapaksas, und warum sind sie so mächtig?
Die Familie Rajapaksa ist seit mehreren Jahrzehnten in der Politik tätig. Der Vater des derzeitigen Präsidenten war bereits Politiker, und auch viele seiner Geschwister, Cousins und Neffen sind Politiker:innen. Es ist wie ein Familienunternehmen. Die meisten Rajapaksas werden heute beschuldigt, sich in ihren Positionen bereichert zu haben. Mahinda Rajapaksa, der jetzt als Premierminister zurücktreten musste, war von 2005 bis 2015 bereits Präsident des Landes. Der heutige Präsident, Gotabaya Rajapaksa, war damals Verteidigungsminister. Unter ihrer Führung wurden im Jahr 2009 die Liberation Tigers of Tamil Eelam besiegt und der Bürgerkrieg beendet. Zehntausende Zivilist:innen wurden dabei getötet. Den Rajapaksas werden heute auch schwere Verbrechen vorgeworfen, die sie im Krieg und vor allem in dessen letzter Phase begangen haben sollen.
Die Proteste haben die Diskussion über Kriegsverbrechen während des Bürgerkriegs neu entfacht. Ist dies ein positives Zeichen, oder besteht die Gefahr, dass das Thema die Demonstrant:innen spaltet?
Aufarbeitung und Rechenschaft sind tatsächlich Themen, die die Bevölkerung in Sri Lanka spalten. Die tamilische Minderheit, die im Nordosten des Landes lebt, hat die Hauptlast des Krieges getragen, und für sie ist Rechenschaftspflicht für einen Versöhnungsprozess zentral. Bisher sah die singhalesische Mehrheitsgemeinschaft in der Rajapaksa-Familie vor allem eine Art Retterin, die den Terrorismus besiegt hat. Die Mehrheit sah die Notwendigkeit einer Aufarbeitung vergangener Verbrechen nicht wirklich ein. Mit der Wirtschaftskrise, den Korruptionsvorwürfen und der Gewalt gegen Demonstrant:innen haben aber auch in der Bevölkerung Gespräche über die Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen, und es gibt jetzt eine breiter abgestützte Forderung nach Rechenschaftspflicht.
Was heisst «breit abgestützt»?
Bei der jetzigen Protestbewegung gehen verschiedene ethnische und religiöse Gruppen und Menschen aus unterschiedlichen Klassen und verschiedenen Alters zusammen auf die Strasse – trotz der Polarisierung in unserer Gesellschaft. Das ist bemerkenswert. Als Teil der Protestbewegung konnten wir beispielsweise am 18. Mai zum ersten Mal eine öffentliche Gedenkveranstaltung für die Opfer der letzten Kriegstage abhalten; es war die erste derartige Veranstaltung im Süden des Landes seit dem Ende des Krieges im Jahr 2009.
Die fehlende Aufarbeitung wurde auch von der Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, kritisiert. In ihrem letzten Bericht zu Sri Lanka vom Januar 2021 warnte sie vor Straffreiheit für begangene Verbrechen und sprach die zunehmende Militarisierung von öffentlichen Einrichtungen an. Können Sie das erklären?
Bachelet warnte, dass Sri Lanka sich in einer Krise befinde, mit Potenzial für Gewaltausbrüche. Das Problem mit der Straffreiheit ist sehr gross. Es gab unter der Rajapaksa-Regierung seit 2019 immense Rückschritte bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen. Sie haben Rechenschaftsmechanismen blockiert, weil sie sich schützen wollen. Unter den Rajapaksas haben zudem viele ehemalige Militärpersonen Schlüsselpositionen in der Regierung besetzt und wurden so von den Rajapaksas geschützt. Zudem haben wir in Sri Lanka eine Politik, die sich stark gegen Minderheiten richtet. Als Folge der Anschläge durch islamistische Terroristen an Ostern 2019 wurde in den letzten Jahren vor allem die muslimische Gemeinschaft, die etwa neun Prozent der Bevölkerung ausmacht, diskriminiert und verleumdet.
Glauben Sie, dass es jetzt eine Chance gibt, die Aufarbeitung voranzutreiben?
Sri Lanka hatte die Chance, sich nach dem Krieg wieder aufzubauen und zu versöhnen, aber wir haben uns in die entgegengesetzte Richtung entwickelt und befinden uns nun in vielerlei Hinsicht in einer Krise. Es liegt auch an der internationalen Gemeinschaft, für mehr Rechenschaftspflicht zu sorgen. An der Sitzung des Menschenrechtsrats in Genf im kommenden September wird Bachelet erneut einen Bericht zu Sri Lanka vorlegen, der auch Optionen für die Förderung der Rechenschaftspflicht enthalten wird. Ich glaube, dass es jetzt aufgrund der Krise ein Zeitfenster gibt, um mit der Regierung zusammenzuarbeiten und langfristige Reformen durchzusetzen, um die Straflosigkeit und die Militarisierung zu bekämpfen.
Die Harvard-Absolventin Bhavani Fonseka ist Verfassungsrechtlerin und Menschenrechtsanwältin in Sri Lanka. Sie forscht und publiziert am Centre for Policy Alternatives in Colombo zu Menschenrechtsfragen, Versöhnungsprozessen und Minderheitsrechten. Sie ist Herausgeberin des 2017 erschienenen Buches «Transitional Justice in Sri Lanka. Moving Beyond Promises».