Wahl in Sri Lanka: «Er will eine Politik für die Armen»
Die Wahl von Anura Kumara Dissanayake zum Präsidenten ist ein Bruch mit der politischen Tradition Sri Lankas. Was vom Vorsitzenden der national-marxistischen JVP-Partei zu erwarten ist – und was Angehörige der Minderheit von ihm halten, erzählt Sahithyan Thilipkumar von der tamilischen NGO Pearl.
WOZ: Sahithyan Thilipkumar, vor knapp zwei Wochen hat die sri-lankische Stimmbevölkerung einen neuen Präsidenten gewählt. Wem haben Sie Ihre Stimme gegeben?
Sahithyan Thilipkumar: Niemandem, ich bin nicht wahlberechtigt. Als ich mit meiner Familie in der Schweiz eingebürgert wurde, haben wir, wie viele Tamil:innen in der Schweiz, die sri-lankische Staatsbürgerschaft verloren. Eine Doppelbürgerschaft wäre zwar möglich, ist aber mit grossen bürokratischen Hürden verbunden. Und ich identifiziere mich selbst nicht als Sri Lanker, sondern als Tamile.
Trotzdem haben Sie die Ereignisse in Sri Lanka mitverfolgt?
Ja, sehr intensiv sogar, denn dieser Wahlkampf war in mehrfacher Hinsicht aussergewöhnlich: Noch nie traten so viele Kandidierende an, und noch nie war der Ausgang der Wahlen so unvorhersehbar. Das Ergebnis fiel auch äusserst knapp aus: Keiner der Kandidaten erhielt wie sonst meist fünfzig Prozent der Stimmen – und dann hat erstmals ein linker Kandidat gewonnen.
Der Gewinner der Wahl, Anura Kumara Dissanayake, der der singhalesischen Mehrheitsbevölkerung angehört, konnte sich im Vergleich zu den Wahlen von 2019 unglaublich steigern – von knapp 4 auf 42 Prozent der Stimmen. Wie war das möglich?
Der Erfolg von Dissanayake kann nur im Kontext der schwersten Wirtschaftskrise verstanden werden, die das Land je gesehen hat. Nach den letzten Wahlen spitzte sich die Situation bis 2022 fortwährend zu und wurde für viele Menschen unerträglich. Auf dem Höhepunkt der Krise gab es keinen Treibstoff mehr, die Leute hatten nichts zu essen. Auch heute sind die Preise noch hoch und die Löhne tief. Gleichzeitig herrschte eine grosse Frustration gegenüber den politischen Eliten und etablierten Parteien, von denen viele glaubten, dass sie sich unrechtmässig bereicherten. Die Korruption ist tatsächlich ein grosses Problem in Sri Lanka.
Vor diesem Hintergrund bildete sich 2022 die sogenannte Aragalaya-Protestbewegung, die schliesslich den damaligen Präsidenten, Gotabaya Rajapaksa, aus dem Land jagte.
Genau. Und ebendiese Bewegung hat auch Dissanayake geholfen.
Inwiefern?
Die national-marxistische JVP, die Partei Dissanayakes, war schon immer gut darin, Leute zu mobilisieren. Während der Proteste war sie präsent und schaffte es, deren Schwung für sich zu nutzen. Der noch jungen Allianz National People’s Power (NPP), die unter der Führung der JVP steht, schlossen sich dann Leute der Aragalaya-Bewegung sowie weitere Aktivist:innen an, darunter viele Frauen, Akademikerinnen, Gewerkschafter und andere Vertreter:innen der – vor allem singhalesischen – Zivilbevölkerung. Mit dieser neuen Allianz schaffte es Dissanayake, von der problematischen Vergangenheit der JVP abzulenken und sich ein neues Image zu geben.
Mit «problematisch» meinen Sie etwa die zwei bewaffneten Aufstände, die die JVP in den siebziger und achtziger Jahren gegen die Regierung führte?
Dissanayake war zur Zeit des zweiten Aufstands Studentenführer bei der JVP. Er war aber auch dabei, als die JVP in den Neunzigern ihre Waffen niederlegte. Die Partei verfolgt seither keine revolutionäre Politik mehr und hat sich erfolgreich in die Parteienlandschaft integriert. Mit der neuen Allianz verfolgt Dissanayake nun einen fast schon sozialdemokratischen Kurs.
Trotzdem wird in den Medien stets betont, Dissanayake sei Marxist, er verehre Lenin oder Fidel Castro. Wie marxistisch oder links ist er tatsächlich?
Die JVP hat stets einen singhalesisch-buddhistischen Nationalismus vertreten. Das Rechts-links-Schema ist auf Sri Lanka nicht so richtig anwendbar. Auch frühere Regierungen haben sich zum Teil sozialdemokratisch oder sozialistisch genannt, gleichzeitig aber neoliberale oder rassistische Politik betrieben. Die Sache ist komplexer, ethnisch-religiöse Hintergründe spielen eine Rolle, das Patronagesystem ist wichtig – mit dem Dissanayake nun brechen will: Er hat der Korruption den Kampf angesagt. Seine Allianz hat auch klar angekündigt, eine Politik für die Armen machen und die Folgen der Wirtschaftskrise und der aktuellen Austeritätspolitik abfedern zu wollen.
Dissanayake hat zudem umfangreiche Sozialprogramme versprochen und angekündigt, mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) die Auflagen für den in der Krise aufgenommenen Kredit über 2,9 Milliarden US-Dollar neu auszuhandeln – unter denen vor allem die ärmere Bevölkerung wegen der hohen Steuern leidet.
Obwohl es in Dissanayakes Partei nach wie vor ideologische Hardliner gibt, die eine Zusammenarbeit mit westlichen, als imperialistisch empfundenen Institutionen wie dem IWF grundsätzlich ablehnen, hat er schon im Vorfeld der Wahl seine Bereitschaft betont, verhandeln zu wollen. Gleichzeitig machte er der Bevölkerung gegenüber grosse Versprechen, obwohl die Auflagen des IWF ziemlich strikt sind. Da gibt es eigentlich keinen grossen Spielraum für Verhandlungen.
Glauben die Menschen trotzdem daran, dass sich die Situation unter Dissanayake verbessern könnte?
Ich war im August in Sri Lanka, also kurz vor der Präsidentschaftswahl, die natürlich ein grosses Thema war. Was ich spürte, war eine grosse Angst vor der Zukunft. Denn in den vergangenen Jahren war die Lage sowohl wirtschaftlich als auch politisch sehr instabil. Obwohl bereits so viele Menschen das Land verlassen haben, um anderswo Arbeit zu suchen, überlegen sich immer noch weitere, diesen Schritt zu machen. Ich war aber nur in Colombo und in den tamilischen Gebieten im Nordosten des Landes. Im singhalesischen Süden, wo Dissanayake die meisten Stimmen holte, ist die Stimmung vielleicht anders.
Wem haben die Tamil:innen ihre Stimme gegeben?
Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, waren recht pragmatisch – sie sind es gewohnt, das kleinere Übel zu wählen. Einige sprachen sich aus wirtschaftlichen Überlegungen für den bisherigen Präsidenten Ranil Wickremesinghe aus, andere für den Oppositionsführer Sajith Premadasa, einige boykottierten die Wahl, wieder andere wählten den tamilischen Kandidaten Pakkiyaselvam Ariyanethiran, dessen Kandidatur insbesondere symbolisch wichtig war.
Dissanayake ist nicht sonderlich beliebt unter der tamilischen Bevölkerung?
Man ist sehr vorsichtig. In der Vergangenheit hat Dissanayakes Partei eine klar antitamilische Politik verfolgt, etwa indem sie sich gegen Friedensgespräche aussprach. Im sri-lankischen Einheitsstaat, der von keinem der bisherigen Machthaber je infrage gestellt wurde und auch von der JVP nicht, gibt es keinen Platz für Minderheiten. Aber auch hier versucht Dissanayake mit der Allianz NPP, von diesem Image wegzukommen. Er hat bereits einige vorsichtige Zugeständnisse gemacht und etwa zugegeben, man habe die Probleme der Tamil:innen vernachlässigt.
Könnte man also sagen, Sie seien vorsichtig optimistisch?
Sehr vorsichtig optimistisch vielleicht. Es hängt für mich auch viel davon ab, wie kooperativ sich Dissanayake zeigen wird, wenn es um die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen geht oder um die tamilischen Forderungen nach mehr Selbstbestimmung. Und es wird spannend sein zu sehen, mit wem seine Allianz nach den für November angesetzten Parlamentswahlen zusammenarbeitet.
Sahithyan Thilipkumar (28) ist Mitglied der NGO People for Equality and Relief in Lanka (Pearl), die sich für die tamilische Bevölkerung im Nordosten Sri Lankas einsetzt. Er berät regelmässig diplomatische Vertreter:innen und Uno-Institutionen. Hauptberuflich arbeitet der studierte Jurist als Rechtsvertreter für Asylsuchende. Er lebt in Zürich.