Afghanistan: «Es war noch nicht Zeit für dich zu gehen»

Nr. 27 –

Seit die Taliban in Kabul die Macht übernommen haben, verüben Islamisten wieder mehr Anschläge. Opfer sind vor allem Schiit:innen wie Mohamed Nur, der so seinen Freund verloren hat.

der Jugendliche Mohamed Nur der Hasara-Ethnie schaut durch ein Fenster mit Vorhang
«Hätten wir die Schule pünktlich verlassen, hätte es uns wohl nicht erwischt», sagt Mohamed Nur.

Auf einmal sei alles hell gewesen. Dann waren nur noch Rauch und Schreie. Mohamed Nur* kann sich an die Explosion nicht mehr genau erinnern. Mehrere Schrapnelle hätten die Ärzte später aus seinem rechten Bein entfernt, ein anderes verfehlte nur knapp sein linkes Auge. Sechs Tage lag er im Krankenhaus. Dabei, sagt er nach einer Pause, habe er ja noch Glück gehabt. Sein bester Freund Dschamil Hamad* hat die Explosion nicht überlebt.

Der Siebzehnjährige sitzt an diesem Nachmittag in einem kleinen Lehmhaus am Rand von Kabul, wo er mit seinen Eltern und drei Geschwistern lebt, auf dem Boden. Asphaltierte Strassen gibt es hier keine. In den kleinen Fenstern des Hauses spiegeln sich die Bergkuppen des schroffen Gebirges, das im Westen der Stadt liegt. Am 19. April gegen 10.30 Uhr verliess Nur zusammen mit seinen Mitschülern der zwölften Klasse die Abdul Rahim Boy’s High School durch den Hinterausgang, als innerhalb weniger Minuten zwei Bomben explodierten. Elf Schüler starben, Dutzende wurden schwer verletzt.

Seit der erneuten Machtübernahme durch die Taliban letzten August haben die Angriffe wieder ein dramatisches Ausmass angenommen. Allein im vergangenen April und Mai starben bei Anschlägen auf Moscheen, Schulen oder öffentliche Verkehrsmittel mehrere Hundert Menschen. Ziel waren fast ausschliesslich schiitische Minderheiten wie die Hasara. Dahinter stecken oftmals terroristische Gruppierungen wie Isis-K, der Ableger des Islamischen Staats (IS) in Afghanistan.

Auch Nur, ein schmächtiger junger Mann mit hagerem Gesicht und struppigem, dunklem Haar, ist ein Hasara. Diese wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder Opfer von Gewalt. Mit etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind sie nach den Paschtun:innen und Tadschik:innen die drittgrösste Ethnie des Landes – und gehören als Schiit:innen gleichzeitig der grössten religiösen Minderheit an. Sie wurden bereits unter den Mudschaheddin, die 1992 das kommunistische Regime abgelöst hatten, verfolgt und vertrieben. Als die Taliban Ende der neunziger Jahre ein erstes Mal an die Macht kamen, verübten sie zahlreiche Massaker an ihnen.

Das Holocaust Memorial Museum der Uno warnte bereits nach dem Fall der alten Regierung letzten Sommer vor einem drohenden Völkermord, Human Rights Watch befürchtet Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erst kürzlich schrieben mehrere prominente Hasaravertreter:innen, darunter namhafte Wissenschaftler und Politikerinnen, einen offenen Brief an Uno-Generalsekretär António Guterres, in dem sie ihn zu sofortigem Handeln aufforderten.

Die genaue Zahl der neusten Opfer zu bestimmen, ist schwierig. Die offiziellen Angaben der Taliban decken sich selten mit den Berichten der Opfer. Die Taliban riegeln den Ort eines Anschlags meist nach kurzer Zeit ab und verhindern so die Berichterstattung.

Die Schule, in der Nur noch eine Stunde vor dem Anschlag Mathematikunterricht hatte, liegt im westlichen Kabuler Stadtteil Dascht-e Barchi. Früher trockenes Farmland, wird er seit den nuller Jahren vor allem von Hasara besiedelt. Immer wieder wurde er in den letzten Jahren Ziel von Anschlägen.

«Eigentlich war an diesem Tag alles ganz normal», erzählt Nur. Er sei an jenem Morgen früher aufgewacht und deswegen zu Fuss die halbe Stunde zur Schule spaziert. Der Tag habe lustig begonnen, er habe mit seinen Freunden rumgealbert, ein paar Sprüche über die Lehrer in Hefte geschrieben.

Auf seinem Handy zeigt er ein Foto des verstorbenen Freundes: Dschamil Hamad sitzt lächelnd auf einem Geländer vor einem Park in Kabul. Er habe nach der Schule Journalismus studieren wollen. Alle nannten ihn den Bodybuilder, weil er nach dem Unterricht Kampfsport trainierte. Kein Tag sei vergangen, an dem die beiden Freunde nicht telefoniert hätten. Manchmal habe ihn seine Familie gefragt, ob er ausser Hamad noch andere Freunde habe. Nur hat eine Botschaft auf das Handyfoto geschrieben, um es als Erinnerung an Freunde zu verschicken: «Es war noch nicht Zeit für dich zu gehen, mein Bruder.»

«Hätten wir die Schule pünktlich verlassen, hätte es uns wohl nicht erwischt», sagt Nur. Der Schuldirektor habe an diesem Tag Gutscheine für einen Vorbereitungskurs für die Universität verteilt, weshalb sich eine lange Schlange gebildet habe. Als Nur mit seinem Freund die Schule schliesslich durch den Hinterausgang verliess, sei dort in einer engen Gasse die erste Bombe explodiert. Die zweite detonierte wenige Minuten später. Trotz Verletzungen sei er weggerannt, doch am Ende der Strasse habe er gemerkt, dass Hamad nicht hinterherkam. «Als der Rauch sich lüftete, sah ich, dass Dschamil einfach umgefallen war. In seiner Brust war ein riesiges Loch.»

Für den Anschlag gibt es kein Bekennerschreiben. Allerdings passt er zum Profil des Isis-K, der die Schiit:innen und andere Minderheiten als Ungläubige betrachtet, die es zu vernichten gilt.

Das Dilemma der Taliban

Der Isis-K wurde 2015 gegründet. Er ist der stärkste Ableger des IS weltweit und sieht sich trotz der ideologischen Nähe zu den Taliban als deren radikalere Alternative. Die Organisation wirft den Taliban vor, dass sie sich vom pakistanischen Geheimdienst steuern liessen und mit der iranischen Regierung kooperierten. Der Isis-K hat die Taliban von Anfang an bekämpft; er ist der Meinung, dass es nur einen rechtmässigen Islamischen Staat geben könne.

Der IS setzt seit der Machtübernahme der Taliban zur Spaltung der Bevölkerung immer mehr auf Anschläge gegen schiitische Minderheiten. Die NGO Human Rights Watch schätzt, dass durch Angriffe der Gruppe seit 2015 mehr als 1500 Zivilist:innen getötet und über 3500 verletzt wurden.

Die Gruppe stellt die Taliban vor ein Dilemma: Folgen sie den Forderungen westlicher Regierungen nach einer gemässigteren Politik und der Achtung der Menschenrechte, könnten sich radikalere Untergruppen aus Protest von ihrer Bewegung abwenden und zum IS überlaufen.

«Früher waren es die Taliban, heute ist es eben der Isis-K – oder wer auch immer dahintersteckt», sagt Nur. Er zeigt mit einer Hand auf die Wohnzimmerwand hinter ihm. Dort hängt neben einem Strauss Plastikblumen sauber eingerahmt das Bild seines Onkels, der Imam war. Vor sechs Jahren habe sich während eines Abendgebets ein Selbstmordattentäter der Taliban in der Moschee in die Luft gesprengt. Der Onkel und 85 weitere Menschen kamen ums Leben.

Die Taliban sagen, dass sie die Situation unter Kontrolle zu bringen versuchten. Nach ihrer Machtübernahme letzten Sommer hatten sie in einer Grossoffensive Hunderte feindliche Kämpfer getötet oder verhaftet. In Städten wie Kabul kam es in jüngster Zeit immer wieder zu grossräumigen Razzien; von Tür zu Tür wurden mutmassliche IS-Zellen gesucht. Doch die Taliban spielen den Isis-K oft auch herunter: Wenige Tage vor dem Anschlag bei Nurs Schule hatte der Talibansprecher Zabiullah Mudschahid noch auf Twitter verkündet, dass die Organisation in Afghanistan kein Problem für die Sicherheit der Bevölkerung sei. Eine gescheiterte PR-Massnahme – und ein fataler Irrtum.

«Seit dem letzten Jahr hatten wir hier schon mehrere Zwischenfälle», erzählt der Imam Schahid Ali* im Viertel Dascht-e Barchi. Der 54-Jährige, der bis auf sein Kinn fein säuberlich rasiert ist, trägt ein weisses Gewand mit einer grauen Weste. Aus Sicherheitsgründen möchte er den Namen seiner Moschee nicht in der Zeitung lesen. Dreimal bereits hätten sie Attentäter mit Sprengstoffwesten vor der Moschee entdeckt, die sie glücklicherweise noch aufhalten konnten. Die Moschee ist eine der grösseren in der Nachbarschaft, täglich kommen Hunderte Menschen zum Gebet hierher.

Die Taliban hätten nach ihrer Machtübernahme mehr Schutz für schiitische Moscheen und andere Einrichtungen versprochen, sagt Ali. Tatsächlich sei die Sicherheitslage jedoch nicht besser geworden – im Gegenteil: Die Taliban hätten das Sicherheitspersonal vor der Moschee sogar reduziert. Zudem müsse neuerdings die Moschee das Gehalt dieses Personals bezahlen.

An diesem Nachmittag spaziert auch der stellvertretende Vorsitzende des Gemeindeschulrats, Ebrahim Amudi*, noch einmal durch die enge Gasse, auf die der Hinterausgang der Abdul Rahim Boy’s High School führt. Der 48-Jährige ist eine Vertrauensperson in der Nachbarschaft, ein hochgewachsener Mann mit freundlichem Gesicht. Neben ihm läuft sein sechsjähriger Sohn Ahmad*.

Die Gasse führt vorbei an Wohnhäusern, über deren hohen Mauern grüne Baumkronen ragen. Amudis Schritte werden schneller, sein Sohn hat Mühe, mitzukommen. Vor einem türkisfarbenen Metalltor bleibt er schliesslich stehen. Er zeigt auf ein Loch im Boden, das notdürftig mit Steinen gefüllt ist. «Hier hatten sie die erste Bombe vergraben.» Die Gasse sei schmal, sodass viele Schüler beim Verlassen der Schule von der Druckwelle erfasst worden seien.

Amudi lebt mit seiner Familie nur wenige Minuten vom Anschlagsort entfernt. Ahmad und die zwölfjährige Tochter Parwana* könnten seit der Explosion nicht mehr richtig schlafen. Nachts schrien sie und wandelten im Schlaf. Für die Anwohner:innen seien die Anschläge zu einem Trauma geworden, sagt Amudi. «Unser einziger Fehler ist, dass wir Hasara sind.»

Ein Maulbeerbaum für Dschamil

Für die Taliban werden die Anschläge zum Problem. Sie untergraben ihre politische Autorität. Sicherheit ist derzeit das stärkste Argument, das für ihre Herrschaft spricht. Damit überzeugen sie selbst jene Afghan:innen, die keinerlei Sympathien für sie haben, aber von den vielen Jahren des Krieges müde sind. Sollte das Gefühl der Sicherheit weiter schwinden, wäre dies, gepaart mit der katastrophalen wirtschaftlichen Situation im Land, eine toxische Mischung, die die Machthaber in Bedrängnis bringen würde.

Nachdem Nur an diesem Nachmittag von seinem Job in einem Malerbetrieb nach Hause gekommen ist, will er noch seinen Freund Dschamil Hamad besuchen: Die Sonne steht hoch, es ist drückend heiss. Er läuft einen kleinen Pfad entlang, über eine Schotterpiste, vorbei an aufgehäuften Sandbergen, bis er schliesslich auf einem kleinen Friedhof in Dascht-e Barchi steht.

Hamad liegt in einem grauen Marmorsarg begraben, die Seiten sind mit geschwungenen Blumen verziert. Wenige Zentimeter daneben hat die Familie einen Maulbeerbaum gepflanzt, der dem Toten einmal Schatten spenden soll.

Es ist still. Auf einem Nachbargrab weht noch die Flagge der alten Regierung im Wind. Nur bleibt eine Weile stehen und betet stumm. Dann holt er eine kleine Kanne mit Wasser und giesst etwas davon in eine Öffnung des Sarges, die mit Erde bedeckt ist. «Damit Dschamil nicht zu warm wird», sagt er und streicht über den Steinsockel.

* Name geändert.