Terrorismus: «Jetzt geht das auch bei euch los»

Nr. 45 –

Am Montagmorgen erschüttert ein dschihadistischer Anschlag die Hauptstadt Afghanistans, am selben Abend ein weiterer jene von Österreich. Wie hängt das zusammen? WOZ-Autor Emran Feroz mit einer persönlichen Analyse über Terror, Tod und Trauer.

Am Montagabend war Wien gelassen und doch angespannt. Ähnlich wie anderswo in Österreich bereitete man sich auf den zweiten Coronalockdown vor. Die anstehenden Verordnungen sahen auch nächtliche Ausgangsbeschränkungen vor. Viele Menschen wollten deshalb noch ein letztes Mal an der lauen Herbstluft schnuppern, essen, trinken und trotz der Pandemie etwas feiern. Doch dann kam alles anders. Mehrere Stunden lang lief ein bewaffneter Zwanzigjähriger mordend durch die Strassen. Der IS-Sympathisant, ein gebürtiger Wiener mit mazedonischen Wurzeln, tötete vier Menschen, und nicht nur Wien, sondern ganz Österreich erlebte eine Schreckensnacht wie schon lange nicht mehr.

Einige Stunden zuvor herrschten anderswo bereits Terror, Tod und Trauer. Die Kabuler Universität wurde zum Ziel eines Anschlags, eines Massakers. 35 StudentInnen wurden getötet, Dutzende weitere verletzt. In Afghanistan wurden in den letzten Wochen und Monaten regelmässig Bildungseinrichtungen zum Ziel. Bereits am 24. Oktober gab es einen Anschlag auf eine Schule im Kabuler Stadtteil Dascht-e Barchi, der über zwanzig StudentInnen, hauptsächlich Angehörige der schiitischen Hasara-Minderheit, das Leben kostete.

Der Griff zum Telefon

Nach dem Kabuler Anschlag begann für mich – so zynisch das auch klingt – das übliche Prozedere: Ich griff zum Telefon und kontaktierte FreundInnen und Verwandte in Kabul, vor allem jene, die in der Nähe der Universität wohnen. Allen ging es gut. Währenddessen wurde das verheerende Ausmass des Angriffs immer deutlicher. DozentInnen teilten verzweifelt die Bilder ihrer getöteten Studierenden. Schnell machten auch Fotos ihrer leblosen Körper die Runde. Es war ein fürchterlicher Anblick, der auch die afghanische Diaspora abermals retraumatisierte. Besonders viral verbreitete sich ein Social-Media-Video des 21-jährigen Mohammad Rahed, der ebenfalls ermordet worden ist. Rahed, der auch im Debattierklub der Universität aktiv war, erklärte darin, dass man harten Zeiten mit einem Lächeln entgegnen müsse. Währenddessen lachte der sympathisch wirkende Student selbst in die Kamera. «Er war mutig und charismatisch, lieb und talentiert», so Samiullah Mahdi, Journalist und einst Dozent von Rahed und zahlreichen weiteren Opfern. Er nahm am Tag darauf an den Beerdigungen seiner ehemaligen StudentInnen teil, jenen Menschen, die laut ihm und vielen anderen «die Zukunft des Landes» hätten sein sollen.

Eine Zukunft, die von Terroristen zerstört wurde. Wer diese Täter waren, scheint immer noch nicht vollständig geklärt zu sein. Allerdings spricht vieles für die afghanische IS-Zelle. Während die afghanische Regierung umgehend die Taliban verantwortlich machte, bekannte sich der IS zur Tat. Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahed verurteilte das Massaker. Auch schon der vorherige Anschlag in Dascht-e Barchi ging auf das Konto der IS-Terroristen.

Ähnlich wie viele andere Menschen hatte ich nicht damit gerechnet, dass jener IS am selben Tag auch Wien angreift. Mittags sprach ich noch mit FreundInnen und Verwandten in Kabul, am Abend mit meinem Bruder in Wien. Während der Terrorist durch die Strassen streifte, verbarrikadierte sich mein Bruder in einem Café in der Innenstadt. Plötzlich sass er gemeinsam mit anderen Gästen im Keller des Lokals.

Ein Gefühl erreicht Wien

Es mag verrückt und paradox klingen, doch während ich mit ihm sprach, kam mein «Afghanistangefühl» hoch. Jenes Gefühl, das man stets mit Krieg und Terror assoziiert und das wahrscheinlich viele Menschen, die aus den betroffenen Regionen stammen, kennen. Ich spürte es abermals nach dem Anschlag in Kabul, doch nun hatte dieses Gefühl auch mein Wien erreicht. In Wien fühlte ich mich stets wohl, sicher und weit entfernt vom Kriegsreporteralltag. Natürlich kann man den Krieg in Afghanistan nicht mit einem einzelnen Anschlag in Europa vergleichen, doch eins ist klar: Terror und Extremismus töten nicht nur in Kabul, Aleppo oder Mogadischu, sondern auch in Wien oder Paris.

Das Netz der Rattenfänger

Es steht ausser Frage, dass all diese Dinge miteinander zusammenhängen. Mittlerweile ist klar, dass der Wiener Täter kein Unbekannter war. Er gehörte zu jenen Extremisten, die vor wenigen Jahren von Österreich ins IS-Kalifat im Irak und in Syrien ausreisen wollten. Seine Reise endete allerdings in der Türkei. In Österreich wurde er verurteilt und sass 2019 wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung siebeneinhalb Monate lang im Gefängnis. Der Krieg in Syrien erreichte bereits früh Österreich. Zu meinen ersten ausführlichen Geschichten gehörte die Story eines Tschetschenen aus meiner Geburtsstadt Innsbruck. Er radikalisierte sich und zog nach Syrien, um dort Baschar al-Assad und Russland, das einst seine Heimat bombardierte, zu bekämpfen. Der junge Mann starb, bevor der IS seinen Höhepunkt erreicht hatte und seinen Pseudostaat gründete. Wenige Jahre später erfuhr ich, dass ein einstiger Freund, ebenfalls ein Tschetschene, den ich aus den Augen verloren hatte, sich ebenfalls radikalisiert und dem IS angeschlossen hatte. Er wurde in Syrien getötet. Als ich ihn noch gekannt hatte, wollte er Wirtschaft studieren und hatte eine vielversprechende Zukunft vor sich.

Was mit all diesen Burschen passiert ist, lässt sich nicht kurz und bündig beantworten. Es liegt auch auf der Hand, dass man derartige Probleme nicht einfach abschieben kann, wie es uns Rechte in diesen Tagen gerne glauben machen wollen. Der sogenannte islamistische Extremismus ist ein Problem von Kabul bis nach Wien. Der IS ist eine Terrororganisation, die weiterhin real existiert und die trotz ihres praktischen Untergangs im Irak und in Syrien eine Art Comeback erleben wird – oder dies bereits tut. Junge, isolierte Männer, aber auch Frauen, die vor dem Computer sitzen, können schnell ins Netz der Rattenfänger geraten. Anschläge und Attentate von einsamen Terroristen kann die IS-Führung einfach für sich reklamieren – ohne mit den Tätern je in Kontakt gewesen zu sein. Dies betrifft sogar grössere, organisierte Strukturen: Die afghanische IS-Zelle steht wahrscheinlich kaum oder gar nicht mit der Führung im Irak und in Syrien in Kontakt. Und das war schon so, als das Pseudokalifat seinen Höhepunkt erlebte und der mittlerweile getötete IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi die Welt in Angst und Schrecken versetzte.

Dass der Schatten dieses Geistes am vergangenen Montag auch Wien erreicht hat, muss noch verdaut werden – auch von mir. Als über den Terrorakt in Wien berichtet wurde, erreichten mich Anrufe aus Kabul. «Na toll, jetzt geht das auch bei euch los», sagte mir mein Cousin am Telefon. Andere fanden sich wohl in einer ähnlichen Situation: In Wien leben viele Menschen mit afghanischen Wurzeln, die den Kontakt zu ihrer Heimat pflegen. Trotz der Tatsache, dass mein Cousin und viele andere Menschen in Kabul an jenem Tag abermals terrorisiert wurden und ein Blutbad erlebten, zeigten sie Anteilnahme am Geschehen in Wien. Andersherum war davon leider nicht viel zu spüren. Anschläge in der westlichen Welt geniessen immer volle Aufmerksamkeit, während die häufigsten Opfer des islamistischen Terrors – MuslimInnen – verdrängt und vergessen werden.

Umso absurder sind auch die Distanzierungsforderungen, die man nach solchen Anschlägen immer wieder hört. Unmittelbar nach dem Wiener Terrorakt wurde diese Debatte abermals in Gang gebracht, allen voran von rechten Kulturkämpferinnen, vermeintlichen Verteidigern des Abendlandes und den üblichen Verdächtigen aus der «Islamkritiker»-Szene. Dass zeitgleich, nämlich am Dienstag, in Afghanistan Demonstrationen gegen Terror und Extremismus stattfanden, interessierte praktisch niemanden.

Der austro-afghanische Journalist und Kriegsreporter Emran Feroz berichtete für die WOZ zuletzt über den Konflikt um Bergkarabach und den Drohnenkrieg in Afghanistan (siehe WOZ Nr. 33/2020 und WOZ Nr. 44/2020 ). Während der Anschläge vom Montag befand sich der 29-Jährige in Stuttgart.