Parlamentswahl in Grossbritannien: Rebellisch grün

Nr. 25 –

Umfragen sagen für den 4. Juli einen Triumph für Labour voraus. Aber der Partei erwächst zunehmend Konkurrenz von links. Unterwegs in Bristol, wo erstmals die Kandidatin der Grünen einen Sitz gewinnen könnte.

 Strassenszene in Stokes Croft, Bristol
Das progressive Quartier hat genug von Labour: Strassenszene in Stokes Croft, Bristol.

Spricht man mit Bristoler:innen über Politik, fällt oft der Satz: «Bristol war schon immer eine rebellische Stadt.» Sie berichten von 1963, als die lokale Busgesellschaft boykottiert wurde, weil sie keine Schwarzen Fahrer:innen einstellte. Oder sie erzählen vom Widerstand gegen die Eröffnung einer Supermarktfiliale im Stokes-Croft-Quartier, der 2011 zu nächtelangen Krawallen führte. Und natürlich ist immer wieder die Rede von jenem Tag im Juni 2020, als Protestierende während einer Black-Lives-Matter-Demo die Statue des Sklav:innenhändlers Edward Colston vom Sockel zerrten.

Sue Kilroe stand damals in der Menge und jubelte mit. «Es war sehr aufregend», sagt sie. Die Achtzigjährige hat im Lauf der Jahrzehnte viele Protestbewegungen in Bristol miterlebt. Und sie ist sich sicher, dass ihre Heimatstadt in einigen Wochen erneut wegen ihrer Aufmüpfigkeit Schlagzeilen machen wird: Es ist gut möglich, dass die Wähler:innen bei der Parlamentswahl am 4. Juli den etablierten Parteien eine Abfuhr erteilen und eine Abgeordnete der Grünen nach Westminster schicken, zum ersten Mal in der Geschichte. Kilroe selbst wird auf jeden Fall Grün wählen. Warum?

Sie nimmt Platz auf der kleinen Treppe vor ihrem Geschäft, das in einer Seitenstrasse in Stokes Croft liegt. Jahrzehntelang, bis die Gesetze 2012 verschärft wurden, war das Quartier bekannt für seine Hausbesetzer:innenszene. Auch heute noch blüht hier die Subkultur. Die Hauswände sind mit Graffiti bedeckt, darübergeklebte Werbeposter laden zu «revolutionären Comedynächten» ein. Der Porzellanladen, den Kilroe führt, passt bestens ins Viertel: Auf den Tellern und Teetassen, die sie verkauft, prangen Zitate von Karl Marx und Slogans aus 200 Jahren Arbeiter:innengeschichte.

«Ich bin Sozialistin durch und durch», sagt Kilroe. «Aber Labour hat sich so weit nach rechts bewegt, dass sie sich kaum mehr von den Konservativen unterscheidet.» Sie nennt einige Beispiele: Labour habe sich nicht unumwunden für die Beibehaltung des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS ausgesprochen; die Parteiführung habe durchblicken lassen, dass sie die Sozialausgaben kaum erhöhen werde; das grüne Investitionsprogramm, das Parteichef Keir Starmer einst versprochen habe, sei mittlerweile eingestampft worden.

Ambitioniertes Programm

Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Das Wahlprogramm, das Labour letzte Woche vorstellte, steht zwar unter dem Schlagwort «change». Aber, wie das Magazin «Jacobin» anmerkte, dieser Wandel beschränkt sich darauf, «das Personal an der Spitze des britischen Staats auszuwechseln».

Die Grünen hingegen, sagt Kilroe, würden eine grundlegende Umwälzung versprechen. Ihr Programm ist tatsächlich ambitioniert: Es reicht von einer Geldspritze für den NHS über die Einführung einer Vermögenssteuer und eines Mietendeckels bis zur Abschaffung der britischen Nuklearwaffen. Und natürlich sollen grosse Summen öffentlicher Gelder in den grünen Umbau der Wirtschaft fliessen. «Wir investieren, um das kaputte Grossbritannien zu reparieren», sagte Ko-Chefin Carla Denyer an der Präsentation des Wahlprogramms vergangene Woche.

Carla Denyer vor einem Hauseingang
Holt sie den Sitz, wäre das eine Sensation: Carla Denyer, Ko-Chefin der britischen Grünen.

In Stokes Croft kommt sie damit gut an. Überall sieht man Plakate für die Grünen, und spricht man Leute auf ihre Wahlpräferenz an, ist die Partei meist die Favoritin. Im gesamten Wahlkreis Bristol Central, in dem das Viertel liegt, hatten die Grünen in den vergangenen Jahren starken Aufwind. In den Kommunalwahlen Anfang Mai gewannen sie in diesem Wahlkreis jeden einzelnen Sitz.

Jetzt hofft Carla Denyer darauf, diesen Erfolg am 4. Juli zu wiederholen – die Ko-Chefin selbst tritt in Bristol Central als Parlamentskandidatin an. Es wäre eine kleine Sensation, denn Bristol ist seit Jahrzehnten eine Labour-Hochburg. Thangam Debonnaire, die jetzige Labour-Abgeordnete, gewann den Sitz 2019 mit einer Mehrheit von mehr als 28 000 Stimmen (allerdings sind die Grenzen des Wahlkreises seither neu gezogen worden, was den Grünen hilft).

Hartnäckige Basisarbeit

Sowieso haben es kleine Parteien im britischen Mehrheitswahlrecht schwer. Gegen die Übermacht der dominanten Parteien – Labour, Tories, in manchen Wahlkreisen die Liberaldemokraten – anzukämpfen, ist in der Regel hoffnungslos. Jede Stimme für eine kleinere Partei gilt als verschwendet. Die Grünen haben nur einen Sitz im Unterhaus: jenen von Brighton Pavilion, den die jetzt abtretende Caroline Lucas nicht zuletzt dank ihres persönlichen Charismas seit 2010 vier Mal gewonnen hat. Einen zweiten Sitz zu ergattern, wäre ein wichtiger Durchbruch.

Entsprechend legen sich die Grünen auch in Bristol ins Zeug. In einem lauschigen Quartier im Westen der Stadt ist eine von Efeu überwachsene Villa an diesem Nachmittag zu einem geschäftigen Parteiquartier umfunktioniert worden. Mehrere Dutzend Leute drängen sich durch die Korridore, in der geräumigen Küche bereiten sie Käsebrote und Salat zu, andere sitzen schon im Wohnzimmer, quatschen und essen. Ein junger Mann mit Klemmbrett steht im Gewühl, stellt Gruppen von Aktivist:innen zusammen und sagt ihnen, in welche Strasse sie als Nächstes gehen sollen, um für die Grünen zu werben.

Gegen zwei Uhr fährt Carla Denyer vor, selbstverständlich mit dem Fahrrad. Die Kandidatin für Bristol Central ist studierte Maschinenbauingenieurin, seit 2011 Mitglied der Grünen und leitet seit Oktober 2021 zusammen mit Adrian Ramsay die Partei. Seit Ausrufung der Wahl Ende Mai steht die energische 38-Jährige plötzlich im Rampenlicht. Schon ein paar Mal hat sie sich in TV-Diskussionen Wortgefechte mit den anderen Parteichefs geliefert, bevorzugt mit Nigel Farage, dem rechtspopulistischen Demagogen.

Aber um den Sitz zu gewinnen, ist immer noch hartnäckige Basisarbeit erforderlich. Denyer isst kurz zu Mittag, dann macht sie sich mit einer Gruppe Aktivist:innen auf den Weg. In den vergangenen Wochen und Monaten habe sie schon unzählige ehemalige Labour-Wähler:innen getroffen, die jetzt ihr Kreuz bei den Grünen machen wollten, erzählt sie, während sie die steile Strasse hinaufmarschiert. «Das Thema Klimawandel ist natürlich für viele wichtig, aber zunehmend ist unsere progressive Sozial- und Wirtschaftspolitik ausschlaggebend. Also zum Beispiel unsere Pläne für umfassenden Wohnungsbau, die Besteuerung der Superreichen, der Schutz des NHS vor der Privatisierung.» Die Enttäuschung über Keir Starmers Labour-Partei sei spürbar.

Umfragen bestätigen diese Einschätzung: Enthusiasmus für Starmers Partei findet man kaum. Dass ein Labour-Triumph trotzdem praktisch garantiert ist, liegt einzig daran, dass die Tories dermassen unbeliebt sind. Deutlicher denn je offenbart sich in diesem Wahlkampf, wie wenig repräsentativ das verkrustete Zweiparteiensystem ist.

Aber es sind die Anfänge einer Aufweichung dieses Systems erkennbar. Rechts der Tories poltert Farages Reformpartei immer lauter, in manchen Umfragen hat sie die Tories bereits überholt. Unterdessen hat der Rechtsrutsch von Labour links einen Raum geöffnet, den jetzt andere Parteien und Bewegungen füllen. In etlichen Wahlkreisen treten unabhängige und grüne Kandidat:innen als linke Konkurrenz gegen Labour an. In Holborn and St Pancras etwa, im Londoner Zentrum, kandidiert der vormalige Anti-Apartheid-Aktivist Andrew Feinstein gegen Keir Starmer. In Chingford tritt die langjährige Labour-Aktivistin Faiza Shaheen als Unabhängige an. Auch Exparteichef Jeremy Corbyn, den Starmer aus der Fraktion geschmissen hat, will jetzt als Parteiloser ins Unterhaus einziehen.

Das Thema Gaza spielt eine wichtige Rolle. Die Tatsache, dass sich Starmers Partei monatelang weigerte, einen Waffenstillstand zu fordern, obwohl ein solcher von einer überwältigenden Mehrheit der britischen Bevölkerung unterstützt wird, hat sie viel Sympathie gekostet: Tausende Aktivist:innen kündigten deswegen in den vergangenen Monaten ihre Mitgliedschaft bei Labour, etliche Gemeinderät:innen sind aus der Partei ausgetreten. Carla Denyer sagt, die Gazapolitik der Partei habe für die Abkehr vieler Wähler:innen den Ausschlag gegeben. Die Grünen setzen sich indes seit Monaten für eine Waffenruhe und einen Stopp der Rüstungslieferungen an Israel ein.

Dennoch bleibt das alte Problem der kleinen Parteien: Bristol Central und eine Handvoll anderer Sitze könnten an die Grünen oder an unabhängige Kandidat:innen gehen – aber was lässt sich damit ausrichten? «Ich weiss, dass ich nicht in die Downing Street einziehen werde», sagt Denyer. «Aber wir können dennoch einen Unterschied machen, indem wir im Parlament mit anderen progressiven Abgeordneten zusammenarbeiten und die Debatte steuern. Wir können den Horizont dessen, was politisch möglich ist, ausweiten.» Auch würde die Situation nach einigen Jahren einer Labour-Regierung eine ganz andere sein – «ich denke, dann werden deutlich mehr Sitze in Reichweite liegen».

Der Soziologe Phil Burton-Cartledge, der an der Universität Derby unterrichtet, stimmt dieser Einschätzung zu. Er glaubt nicht, dass sich die linke Opposition zu Labour in dieser Wahl in viele Sitzgewinne übersetzen wird. Aber es könne ein Grundstein gelegt werden: Sollte sich in den kommenden Monaten und Jahren herausstellen, dass Starmer nicht den Wandel bringt, den sich die Leute erhoffen, könnte sich die Stimmung schnell gegen ihn wenden. «Und die Grünen könnten davon profitieren.»

Opposition aufbauen

Laut Umfragen könnte die Partei am 4. Juli in fast 50 der insgesamt 650 Wahlkreise auf dem zweiten Platz landen. «Das wäre eine gute Grundlage für die Grünen, um Labour künftig Konkurrenz zu machen», sagt Burton-Cartledge. Aktivist:innen, etwa die Solidaritätsbewegung mit Palästina, werden weiter Druck ausüben. «Es bietet sich eine Gelegenheit für linke Formationen und linke Politik – sei es als Wahlalternative oder als Bewegung auf der Strasse –, um eine Opposition zu Keir Starmer aufzubauen.»

Carla Denyer und ihre Genoss:innen werden sich in den kommenden zwei Wochen noch anstrengen müssen. Gerade spricht sie mit einer Wählerin Ende fünfzig, die für sie stimmen wird. Denyer bittet sie, ein grosses Wahlschild in ihrem Vorgarten aufzustellen. «Das macht einen riesigen Unterschied», erklärt sie. «Viele Leute glauben nicht, dass die Grünen hier gewinnen können. Aber wenn man in einer Strasse zehn solche Schilder sieht, merken sie, dass es möglich ist.» Klar, das werde sie machen, sagt die Frau.