Auf allen Kanälen: Eine Frage der Würde

Nr. 32 –

Gegen das Debattensperrfeuer: Der frühere Literaturblog «54books» hat sich rasch als zuverlässig anregendes Onlinefeuilleton etabliert.

Stilisiertes Logo des Literaturblog «54books»

Kulturjournalismus in der Krise? Kommt immer auch darauf an, wo man ihn sucht. Wer täglich im Kulturteil des «Tages-Anzeigers» («Du bist, was du liest») blättert, braucht nicht lang, um den Befund belegt zu sehen. Und wenn andernorts im Feuilleton wieder nach absehbarem Muster ein Debattensperrfeuer zur «Cancel Culture» oder zu anderen bürgerlichen Fantasmen eröffnet wird: dito. Der Literaturwissenschaftler Simon Sahner hat dafür den Begriff «Erschöpfungsfeuilleton» geprägt: immer wieder die gleichen Themen, die abgespult werden, und oft die gleichen Leute, die mit den gleichen Argumenten hausieren.

Erschienen ist der Text zum «Erschöpfungsfeuilleton» im Onlinemagazin «54books», das Sahner zusammen mit Johannes Franzen, Berit Glanz und Tilman Winterling betreibt. Dieses hat sich seit 2020 rasch als anregendes Netzfeuilleton etabliert. Wobei sie bei «54books» selber auch ein wenig am Krisennarrativ weben: Hier werde, so heisst es in der knappen Selbstbeschreibung, «vielen Themen Raum gegeben, die im Feuilleton keinen Platz mehr finden».

Pippi statt Kracht

Im Umkehrschluss gilt das auch für Themen und Figuren, die ihren Platz im Feuilleton ohnehin auf sicher haben. Die neuen Romane von Autoren (männliche Form beabsichtigt), die sowieso überall breit besprochen werden, ob sie nun Martin Walser, Uwe Tellkamp oder Christian Kracht heissen: Bei «54books» sucht man sie meist vergeblich. Eher findet man hier einen Essay über Pippi Langstrumpf zur Frage, was eigentlich mit machtkritischer Kinderliteratur passiert, wenn die Macht sich gewandelt hat; eine Staranalyse über Harry Styles als Identifikationsfigur für die Generation Z; oder auch, unter dem Titel «Distinktion zum Frühstück», eine leise ironische Liebeserklärung an das deutsche Pendant des Radioformats «Musik für einen Gast».

«Wir leisten uns Sachen, die das klassische Feuilleton aufgrund seiner Strukturen nicht machen kann», sagt Simon Sahner im Videochat zusammen mit Johannes Franzen. Und wenn umgekehrt die grossen Feuilletons mit ihren Pflichtübungen zum Proust- oder Hölderlinjahr auffahren, kann man sich mit Franzen schon fragen: «Braucht es diesen Budenzauber wirklich jedes Mal?» Wenn sie bei «54books» doch auch mal Kalenderjournalismus machen, dann eher, um Figuren zu würdigen, die nicht sowieso längst kanonisiert sind. Etwa, als Nicole Seifert an Ruth Rehmann erinnerte, Autorin der «Gruppe 47». Deren 100. Geburtstag war sonst praktisch nirgends ein Thema.

Permanent auf Stand-by

Hauptquartier der vierköpfigen Redaktion: das Netz. Kennengelernt haben sich die vier fast alle über Twitter, und sie leben weit verstreut: Berit Glanz lebt als freie Autorin in Island, Winterling als Jurist in Hamburg, Franzen lehrt an der Universität Siegen, Sahner ist freier Autor und Wissenschaftler in Freiburg. Sitzungen gibt es keine, die redaktionellen Diskussionen führen sie auf Telegram. Alle paar Monate trifft man sich über Zoom, physisch nur ein- bis zweimal im Jahr an den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Die Redaktion teilen sie sich in ehrenamtlicher Selbstausbeutung, «eigentlich permanent auf Stand-by», wie Sahner erzählt: im Regionalexpress einen Text hochgeladen, auf dem Weg zur Uni noch einen Fehler korrigiert. Was dank bislang 580 zahlender Unterstützer:innen an Geld hereinkommt, wird bei «54books» vollumfänglich auf die Autor:innen umgelegt. Mit einem Honoraransatz von derzeit 216 Euro pro Artikel hätten sie schon so manches deutsche Textmedium überholt.

Und der irreführende Name, wo es doch längst nicht nur um Bücher geht? Der erklärt sich daher, dass «54books» bis 2019 der private Literaturblog von Tilman Winterling war, und als er vor bald zehn Jahren damit anfing, hatte er eben 54 Bücher auf seinem Stapel liegen. Eine Namensänderung stand aber nie zur Debatte, sagt Franzen. «Man weiss ja, wie das ist: Da wird endlos diskutiert, und zuletzt einigt man sich auf ‹Kaktus› oder sonst etwas, das klingt wie eine Schülerzeitung.»

Nur als Antagonist zum klassischen Feuilleton sehen sie sich im Übrigen auch nicht, räumt Franzen ein, der selber regelmässig für die «Zeit» oder die FAZ schreibt: «Ich mag Debatten, die Lust an Polemik ist uns auch wichtig.» Aber was in der Gier nach Debatte alles veranstaltet werde: Das sei der Würde des Ressorts einfach nicht angemessen.

www.54books.de