Wichtig zu wissen: Sonnig, trotz einiger Woken

Nr. 32 –

Ruedi Widmer mit Killerargumenten für die Neutralität

Ich möchte nochmals das Thema Neutralität aufgreifen, das Kollege Gärtner in der letzten Ausgabe so treffend ausgebreitet hat.

Die Neutralität ist die Grundlage für die Wohlfahrt hierzulande. Aber sie wird nicht gepflegt.

Die neutrale Schweiz liefert prinzipiell allen Seiten Waffen, damit sich die Kriegsparteien gegenseitig neutralisieren und der weltweite Siegeszug der Neutralität fortschreitet.

Aber Spass beiseite. Jetzt mit dem nötigen Ernst. Ich frage mich, ob angesichts der weltweiten Krisen das wirtschaftliche Erfolgsmodell der Neutralität in unserem Land noch Unterstützung findet. Ich bin nicht der Einzige, auch Christoph Blocher, mit dem ich den Kanton und das Brillentragen teile, ist besorgt. Er würde die Neutralität am liebsten nachträglich in den Bundesbrief hineinschreiben, hat aber kein Tipp-Ex mehr im Haushalt und auch keinen Tintenkiller. Ein Tintenkiller war für mich um 1981 ein fast unglaubliches Gadget, das die Zauberei vollbringen konnte, die erst wenigen Fehler meiner noch jungen Existenz auszulöschen, die vor allem aus «dass» statt «das» bestanden. Die Zeit machte sie im Schulheft zwar wieder sichtbar, aber erst, als Klasse und Lehrkraft schon wieder geändert hatten. Hinten hatte der Tintenkiller einen blauen Filzstiftkopf, mit dem man die von Tinte befreite Papierfläche wieder beschreiben konnte, denn der Füllfederhalter konnte das aus chemischen Gründen nicht. Ein Wahnsinn aus heutiger Sicht, die Basler Chemie sollte sich schämen.

Die Schülerinnen und Schüler der Generation Bula schreiben nur mehr mit Tastatur, Bleistift oder Kugelschreiber. Ein Tintenkiller («Was?») klingt für sie eher wie ein böser Mann in einer Netflix-Serie oder wie die neuste russische oder chinesische Wunderwaffe. Was ein Tipp-Ex sei, werde ich gerade gefragt. Wie Telex, Teletext, Telefax oder Teleboy ist das Tipp-Ex eine fortschrittliche Technologie von einst, die auf einem Fläschchen basierte, in dem weisse Farbe drin war.

Als diese Farbe noch nicht eingetrocknet war, lebte die Schweiz die Neutralität noch ausgiebig und hob ihre Sonderstellung hervor, die auch darin begründet war, dass die Schweiz genau über dem Erdmittelpunkt liegt. Nun liegt es am beileibe nicht ausgetrockneten Blocher, das Volk auf seine Seite zu ziehen und die Neutralität ein für alle Mal in den Gotthardgranit der Bundesverfassung zu meisseln. Die Unterschriftensammlung beginnt im Herbst.

Doch gibt es wirklich genügend Kritiker:innen der Sanktionen gegen Putin? Blocher hat ein bisschen das Gespür für das Volk verloren, aber in seiner Partei hat es ja auch jüngere Leute, zum Beispiel Ueli Maurer, der künftige Schweizer Stromgeneral («Lösung: Dieselgenerator»). Dann gibts noch die woken Typen in der Partei aus Küsnacht ZH, die ein bisschen ahnen, wie der Zeitgeist läuft, indem sie zu allem «woke» sagen, und bei denen kann ich mir lebhaft vorstellen, wie sie über Konzepten brüten und sich fragen, ob man mit der Neutralitätsinitiative nicht auch irgendwie in diese hippen LGBTQ-Kreise oder in die Brasserie Lorraine hineinkommen oder zumindest von der politisch korrekten Rücksichtnahme profitieren könnte, also beispielsweise.

«Ich bin neutral, aber ich getraue mich nicht, mich zu outen», oder so etwas. Weil die Gesellschaft völlig intolerant gegenüber Neutralen ist.

Neutralität als drittes, viertes oder fünftes Geschlecht, Neutralität als zusätzliche Toilettentür zwischen den anderen. Neutralität als Rastalocke, als religiöses Alleinstellungsmerkmal, das sich niemand aneignen darf, damit die Schweiz weiterhin Weltmarktführerin beim Geldverdienen bleibt.

Den Begriff «woke» kenne ich persönlich nur von der SVP. Der Wok an sich ist übrigens der Tintenkiller im Pfannensegment. Den braucht auch niemand mehr, man klicke sich mal bei tutti.ch durch die Angebotsliste.

Ruedi Widmer ist garantiert neutraler Cartoonist in Winterthur.