Schweiz–Ukraine: Die Neutralität als Falle

Nr. 11 –

Es ist durchaus anzunehmen, dass es in zwanzig oder dreissig Jahren eine Untersuchung darüber geben wird, wie sich die Schweiz verhielt, als Russland die Ukraine angriff. Damals, als der «Ernstfall» eintrat, um den Historiker Karl Schlögel zu zitieren, ein Ernstfall in dem Sinn, als Denkmuster, die gefestigt schienen, auf den Prüfstand kamen. Und damit auch jenes Wort, das man sich in der Schweiz von Generation zu Generation weiterflüsterte, ohne seine nähere Definition zu kennen: die Neutralität.

Zwar wurde im Land, das sich schon immer gern auf vergilbte Schriftstücke berufen hatte, ein ebensolches ausgegraben, das Haager Abkommen von 1907, das angeblich bis in die Gegenwart die Sache mit der Neutralität und damit auch die Waffenausfuhr regeln sollte. Doch bald wiesen die Beweglicheren unter den Expert:innen darauf hin, dass das Abkommen einer Kriegsvorstellung aus dem 19. Jahrhundert folge und sich das Völkerrecht seither weiterentwickelt habe: im Briand-Kellogg-Pakt, der den Angriffskrieg ächtete und den die Schweiz bereits 1929 unterzeichnet hatte. Vor allem aber in der Uno-Charta von 1945, die ein Gewaltverbot zwischen den Staaten erliess, davon aber das Selbstverteidigungsrecht – im vorliegenden Fall der Ukraine – explizit ausnahm.

Erst ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erkannte man auch in der Schweiz in breiten Kreisen diese Weiterentwicklung des Völkerrechts. Nun machte sich bei vielen das mulmige Gefühl breit, dass das Land mit seiner Engführung der Neutralität den für ihre Freiheit kämpfenden Ukrainer:innen vermutlich mehr schade als dem mafiösen Regime von Wladimir Putin. Selbst die sonst armeekritischen Sozialdemokrat:innen plädierten dafür, Drittstaaten die Weitergabe von Schweizer Waffen an die Ukraine zu ermöglichen, sofern die Verletzung des Gewaltverbots gemäss Uno-Charta erfüllt sei.

Warum es in dieser Situation ausgerechnet der SP-Bundespräsident war, der in einem Interview eine absolut strikte Auslegung der Neutralität forderte, wird in der künftigen Untersuchung unzweifelhaft eine der zu klärenden Fragen sein. Mutmasslich lenkte Alain Berset mit seinen Aussagen auch ganz profan von einer Kampagne um seine Amtsführung ab. Dass er von einem «Kriegsrausch» sprach, der viele erfasst habe, womit er aber nicht als Erstes den russischen Diktator meinte, machte das Interview zum Skandal.

Der Bundespräsident korrigierte zwar, er habe nur sagen wollen, die Schweiz könne als Sitz von internationalen Organisationen fern einer Kriegslogik besser helfen. Bloss war das Land – abgesehen von der Aufnahme einer grösseren Zahl von Geflüchteten – bis zu jenem Zeitpunkt den Tatbeweis dafür schuldig geblieben. So war beispielsweise keine Sonderkommission nach Zug gesandt worden, um die dortigen Firmensitze von russischen Oligarchen zu schliessen und zu deren Verfilzung mit der lokalen Machtelite von Mitte-Partei, FDP und SVP zu ermitteln.

So gesehen hatte die Neutralität ihren immerwährenden Dienst getan. Die Schweiz konnte wie seit jeher in Zeiten des Krieges ungestört ihre Geschäfte treiben, trotz ein paar Sanktionen gegen Russland. Dem obersten einheimischen Oligarchen, der sich auch die grösste Partei des Landes leistete, war schon das zu viel: Christoph Blocher hatte eine Neutralitätsinitiative lanciert, die in Zukunft Sanktionen gegen kriegsführende Staaten verbieten sollte. Wie die Abstimmung am Ende verlief, dürfte den Schlusspunkt der Untersuchung bilden.

Klar ist als These schon jetzt: Die Schweiz hat sich in ihrer Eng- und Engerführung der Neutralität geradewegs in eine Falle begeben. Kaum jemand in der Welt versteht sie mehr. Sie tut es – und das ist schon heute offensichtlich – aus Ignoranz, Bequemlichkeit und Profitgier. Das Verstörende ist, dass die Menschen, die in der Ukraine sterben, wie auch die Opposition, die in Russland im Gefängnis sitzt, in dieser Rechnung keinen Platz haben. Aus der Zukunft betrachtet wird es wohl, einmal mehr, eine sehr schweizerische Rechnung gewesen sein.

WOZ Debatte

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Kommentare

Kommentar von 335542

Do., 16.03.2023 - 12:09

Ein ausgezeichneter Kommentar, der meine über die Jahre gewachsenen Vorbehalte gegenüber dem an geschichtlichen Fakten armen, aber desto mehr mit einfältigen Mythen überladenen Neutralitätsgeschwurbel bestätigt. Scheinheiligkeit und Heuchelei kennzeichnen unsere Neutralitätspolitik, die seit langem nur als Feigenblatt dient, um Geschäfte mit den übelsten Menschenrechtsverletzern und Kriegsverbrechern zu kaschieren. Mit fadenscheinigen juristischen Argumenten wird die Wiederausfuhr schweizerischer Waffen in die Ukraine blockiert, während die Waffenausfuhr in Länder, die klar Menschenrechtsverletzungen begehen, weiter möglich ist. Und die Sanktionen gegenüber Russland werden nur halbherzig durchgeführt. Und, und, und. Das Tüpfli auf dem I war in dieser Beziehung das unsägliche Interview von Bundesrat Berset am letzten Wochenende.
Ich gehe mit dem Autor einig: eine solch katastrophale und bigotte Aussenpolitik führt die Schweiz ins Abseits und in die Isolation. Die Bananenrepublik Schweiz lässt grüssen.

Kommentar von Urs Fankhauser

Do., 16.03.2023 - 13:33

Die Schweiz ist von befreundeten Staaten umgeben. Oder etwas nüchterner (da der egoistische Nerd im Zentrum Europas ja eigentlich keine Freunde hat): Von nicht feindseligen. Militärisch macht die Neutralität seit Ende des 2. Weltkriegs keinen Sinn mehr. Aber die militärstrategische Seite der Neutralität ist ja auch längst nicht mehr der Kern der Sache. Blocher und seine Leute machen mit ihrer Initiative ja auch unmissverständlich klar, worum es geht: Ein neutraler Staat dürfe auch keine Sanktionen unterstützen. Klar, dies behindert nur die Geschäfte.
Rund um den Ukrainekrieg erlebten wir eine wahre Sh.tshow des Neutralitätsprinzips. Erst sollten wir deshalb die Wirtschaftssanktionen gegen Russland nicht übernehmen können. Was gründlich schief ging. Ein paar Telefonate aus wichtigen ausländischen Regierungszentren liquidierten diese Haltung im Handumdrehen. Seither wird der Fetisch Neutralität immer dann hervorgeholt, wenn es um die Weitergabe von Waffen an die Ukraine geht. Mich erinnert das Ganze ein wenig ans Zücken des Kruzifixes zum bannen des Bösen. Die Schweiz dürfte sich mit dieser Vorstellung mehr geschadet haben, als mit den isolationistischen Eskapaden der SVP.
Warum werden wir nicht einfach ein normales europäisches Land? Wozu klammern wir uns an den neutralen Status, der uns doch seinerzeit aufgezwungen wurde? Wir müssen nicht neutral sein, niemand zwingt uns heute dazu. Schweden und Finnland haben darüber nachgedacht und sich für einen NATO-Beitritt entschieden. Diesen Schritt müssten wir nicht auch noch gleich tun. Aber vielleicht würden wir es dann endlich in die EU schaffen, weil unsere Wirtschaft nach dem Wegfall des Neutralitätsbonus ein neues Geschäftsmodell benötigen würde?

Kommentar von speedylemon

Do., 16.03.2023 - 17:22

Strikt gesehen befindet sich die Ukraine gar nicht im Krieg, da ein solcher gar nie erklärt wurde. Sie wehrt kriminelle Eindringlinge ab, und sie dabei zu unterstützen, verletzt die klassische Neutralität nicht.

Kommentar von heinz abler

Do., 16.03.2023 - 17:45

Gemäss Schlussbericht Bergier-Kommission (2002, S. 206) belief sich der Wert der Ausfuhr von Waffen, Munition und Zünder zwischen 1940 und 1944 auf ca. 980 Mio Fr.. Davon gingen ca. 80% an die Achsenmächte Deutschland, Italien, Japan und Zugewandte, der Rest von 20% an die Alliierten und Neutrale.
Soviel an gelebter "Neutralität" könnte man aus der Geschichte herausdestillieren, falls man über einen Rest von Geschichtsbewusstsein verfügen würde und den Bergier-Bericht nicht längst vergessen hätte.
So kehrt diese Neutralitätsdiskussion als Farce wieder zurück aufs Tapet, erregt die Gemüter und behindert das Denken.

Kommentar von rietmann

Do., 16.03.2023 - 19:00

Der Artikel stellt meiner Ansicht nach korrekt die politische und ökonomische Funktion der Neutralität für Eigeninteressen bestimmter Sektionen der Schweizer Bevölkerung dar. Er irrt aber in der Annahme, dass eine Erlaubnis der Waffenausfuhr eine progressive Lösung biete. Der Krieg in der Ukraine ist schon längst ein Weltkonflikt geworden. Auch wenn der unmittelbare Auslöser ein völkerrechtswidriger Angriff seitens Russlands war, spielen westliche Interessen bei der Fortsetzung und zunehmenden Eskaltion des Krieges eine treibende Rolle. Leidtragende ist die Bevölkerung sämtlicher beteiligter Staaten. Forderungen im Sinne einer progressiven Lösung wären: sofortiger Waffenstillstand, weltweite Enteignung der Oligarchen und Nutzniesser, offene Grenzen!

Kommentar von Gabriela Neuhaus

Fr., 17.03.2023 - 09:55

Die Tatsache, dass gewisse Wirtschaftskreise und Politiker:innen die Neutralität für Gewinn und Eigeninteressen missbrauchen, ist kein Grund, deren positive Aspekte zu leugnen und diese zu verteufeln. Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel, schreibt dazu: «Solange Kriege geführt werden, obwohl diese angesichts dringender globaler Probleme anachronistisch sind, bleibt Neutralität ein sinnvolles Konzept: Sie gründet im Völkerrecht und und priorisiert friedliche Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte. Neutrale ergänzen die Rolle anderer Länder. Die Schweiz tut dies als Gastgeberin, Schutzmacht und Vermittlerin.»
In diesem Sinn wünschte ich mir ein verstärktes Engagement der Schweiz im Namen der Neutralität!
Allerdings greift der aktuelle Streit über Neutralität zu kurz: Was die Befürworter:innen einer militärischen Unterstützung der Ukraine verlangen, hat letztlich weniger mit Neutralität zu tun als mit der Aufweichung des Kriegsmaterialexportgesetzes. Und der Ruf nach einer sofortigen Beschlagnahmung und Neuverteilung aller russischen Privatvermögen in der Schweiz (wie steht es um die Gelder der ukrainischen und aller anderen Oligarch:innen?) untergräbt den Rechtsstaat. Was nicht heisst, dass ich gegen eine Schaffung von Rechtsgrundlagen bin, welche es Oligarch:innen und anderen Steuervermeider:innen erschwert, ihre Vermögen in der Schweiz zu bunkern. Im Gegenteil! Dafür engagieren wir uns ja nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine...
Kurzum: Neutralität, die ein humanitäres Engagement und «gute Dienste» wie etwa Befördern von Verhandlungen anstelle von militärischer Unterstützung ins Zentrum stellt, sollte gestärkt werden. Gleichzeitig darf das Kriegsmaterialgesetz nicht aufgeweicht oder mit spitzfindigen Deals umgangen werden. Vielmehr sollte linkes Engagement darauf fokussieren, der durch den Krieg in der Ukraine befeuerten weltweiten Aufrüstung entschieden entgegenzutreten.