Geschichtspolitik in Kolumbien: «Es gibt nicht nur Gute und Böse»

Nr. 33 –

Er ist froh, dass der neu vereidigte Präsident Gustavo Petro die Aufarbeitung des bewaffneten Konflikts vorantreiben will: Alejandro Castillejo, ein Mitglied der Wahrheitskommission, über die schwierige Suche nach Gerechtigkeit.

WOZ: Alejandro Castillejo, als die Wahrheitskommission ihren Abschlussbericht der Regierung überreichen wollte, glänzte der damalige kolumbianische Präsident Iván Duque durch Abwesenheit. Will die Rechte von einer Aufarbeitung des Konflikts nach wie vor nichts wissen?
Alejandro Castillejo: Duque hat schon die 2016 im Friedensabkommen von Havanna festgelegten Vereinbarungen – unter anderem die Einrichtung der Wahrheitskommission – nie mitgetragen. Auch die Arbeit der Kommission hat er nie unterstützt. Insofern war sein Verhalten nur konsequent. Für uns war entscheidend, dass der neue Präsident Gustavo Petro bei der Präsentation anwesend war. Duque war zu diesem Zeitpunkt bereits irrelevant.

Das Besondere an der Wahrheitskommission ist, dass sie versucht hat, bei der Aufarbeitung einen Konsens zu finden. So war mit Carlos Guillermo Ospina auch ein Repräsentant der Armee beteiligt, der allerdings kurz vor der Fertigstellung des Berichts zurücktrat. War es schwer, einen Konsens zu erringen?
Ja, sicher. Es ist charakteristisch für Konflikte wie den kolumbianischen, dass seine Ursachen und seine historische Entwicklung von den Akteur:innen sehr unterschiedlich interpretiert werden. Für eine Aufarbeitung müssen sich die unterschiedlichen Teile der Gesellschaft selbstkritisch mit eigenen Fehlern auseinandersetzen. Das Problem ist dabei nicht, dass es unterschiedliche Standpunkte gibt, sondern dass sich ein Teil der Gesellschaft gar nicht erst der Diskussion stellen will.

Die neue Regierung von Gustavo Petro hat nun grundlegende Veränderungen in der Menschenrechts- und der Friedenspolitik angekündigt. Wie viel wird sie umsetzen können – in Anbetracht ihrer mächtigen Gegner:innen?
Ich glaube, das ist nicht so eindeutig. Teile der Unternehmerschaft haben zum Beispiel angedeutet, dass sie für einige von Petros Projekten offen sind. Von den sozialen Bewegungen wird eine Auseinandersetzung mit der systemischen Gewalt eingefordert, grossen Teilen der Gesellschaft hingegen geht schon die jetzige Auseinandersetzung zu weit. Es ist eine komplexe Gemengelage, und vieles wird davon abhängen, wie die neue Regierung vorgeht.

Ich bin allerdings nicht besonders optimistisch. Unser Bericht ist juristisch nicht bindend. Für die Kommission ist zwar entscheidend, dass Präsident Petro die Empfehlungen – darunter die Umsetzung des Friedensvertrags, eine radikale Änderung der Drogenpolitik und eine umfassende Polizeireform – umsetzen will. Aber insgesamt ist die Angelegenheit kompliziert, weil eben sehr viele unterschiedliche Akteur:innen und Interessen im Spiel sind.

In Kolumbien gab es immer zwei grosse Narrative des Konflikts. Für die einen war es ein Krieg zwischen Rechtsstaat und Terrorismus, für die anderen ein sozialer Krieg, der sich aus der extremen Ungleichheit speist. Welches dieser Narrative liegt dem Bericht der Wahrheitskommission näher?
Es ist in erster Linie ein Bericht über die Konfrontation zwischen unterschiedlichen politischen Projekten. Ausserdem haben wir uns mit lang andauernden Gewaltformen auseinandergesetzt. Also mit einer Gewalt, die bestimmte ethnische Gruppen seit Jahrhunderten betrifft. Die Frage der sozialen Ungleichheit ist darin zwar enthalten, aber es gibt keine spezifische Auseinandersetzung damit. Die Frage, wie soziale Ungleichheit und Krieg beziehungsweise Differenz und soziale Ungleichheit zusammenhängen, sollte in künftigen politischen Debatten analysiert werden. Unser Bericht verweist zwar darauf, aber sie steht nicht im Mittelpunkt.

Eine andere Frage ist jene nach der Strafverfolgung der Schuldigen. In Guatemala etwa wurden die Militärs nicht bestraft und konnten bald wieder einen Präsidenten stellen. In Argentinien hingegen landeten viele Generäle im Gefängnis, was die autoritäre Rechte bis heute schwächt. Wie wird das in Kolumbien?
Ich halte wenig davon, Militärdiktaturen mit bewaffneten Konflikten zu vergleichen. Die Verbrechen der Diktaturen lassen sich einfacher aufklären, weil es Archive und Hierarchien gibt. In bewaffneten Konflikten sind überdies die Grauzonen grösser. Es gibt nicht nur Gute und Böse, sondern eben auch viele dazwischen. In diesem Sinne denke ich, dass Kolumbiens Übergangsjustiz ein Hybrid sein wird, eine Art Mittelding: Die Verbrechen werden nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag landen. Aber es wird auch nicht nur beim Bericht der Wahrheitskommission bleiben, sondern Strafprozesse geben.

Diesem Vorgehen zugrunde liegt das Konzept der Transitional Justice, der «Übergangsjustiz», wie man sie zur Lösung bewaffneter Konflikte entwickelt hat. Diese beruht auf drei Komponenten: Aufklärung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Welche Komponente dieses Dreiecks Priorität haben soll, muss jede Gesellschaft für sich abwägen. Selbst in Südafrika, wo das Konzept der «reparativen Justiz» gewissermassen erfunden wurde, blieben die meisten Verbrechen der Sicherheitskräfte ungesühnt. Das wichtigste Ziel war dort die Demontage des rassistischen Staates – man wollte seine Vorgehensweise offenlegen.

Aber der kolumbianische Staat hat nicht aufgehört, Verbrechen zu begehen. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres wurden 110 Aktivist:innen aus sozialen Bewegungen ermordet: in der Regel von rechten Paramilitärs – mit der Rückendeckung der Armee. Ebenso geht die Vertreibung von Bäuer:innen und Indigenen zugunsten von Bergbauprojekten einfach weiter.
Eine Verhandlungslösung kann bestimmte, aber eben nicht alle Formen der Gewalt beenden. Bei allen Prozessen der Übergangsjustiz, zu denen ich geforscht habe, gab es Formen systematischer Gewalt, die ausgeklammert blieben. In Kolumbien ist das Problem nicht nur, dass weiterhin Privatarmeen existieren, sondern dass eben auch viele Varianten der strukturellen Gewalt fortbestehen. Kolumbien ist eine extrem hierarchisierte, rassifizierte Gesellschaft. Bei Gewalt geht es nicht nur darum, was den Körpern angetan wird, sondern auch um die Mechanismen, mit denen hierarchische Beziehungen hergestellt und aufrechterhalten werden. Diese Art von Gewalt verbindet Kapital, Staat und Gesellschaft in einem sich selbst reproduzierenden System. Die Diskussion über diese Art systemischer Gewalt steht in Kolumbien bisher noch aus.

Der Konfliktforscher

Der Anthropologe Alejandro Castillejo war als Experte für Konfliktforschung unter anderem in Südafrika und Peru. 2020 wurde er in die kolumbianische Wahrheitskommission berufen. 2016 im Rahmen des Friedensabkommens mit der Farc-Guerilla gegründet, arbeitet das Gremium den langjährigen bewaffneten Konflikt im Land auf. Seit den sechziger Jahren kämpften in Kolumbien linke Guerillagruppen gegen den Staat und rechte Paramilitärs. Nun hat die Wahrheitskommission weit mehr als 20 000 Interviews mit Betroffenen der Gewalt, aber auch mit Täter:innen geführt. Ihr elf Kapitel umfassender, Ende Juni präsentierter Abschlussbericht dokumentiert schwerste Menschenrechtsverletzungen und geht von über 450 000 Opfern aus – weit mehr als bisher angenommen.

Kolumbiens neuer Präsident : An der Regierung, aber nicht an der Macht

Allzu viele Veränderungen sollte man von Gustavo Petro, dem ersten linken Präsidenten Kolumbiens, nicht erwarten. Zwar haben die sozialen Bewegungen des Landes in den letzten Monaten alles dafür getan, um ihm und vor allem seiner afrokolumbianischen Stellvertreterin Francia Márquez ins Amt zu verhelfen. Doch ob die Linksregierung etwas von ihrem Programm wird umsetzen können, steht in den Sternen. Denn ihre Gegner:innen sind mächtig und gut organisiert.

In den beiden Parlamentskammern stellt Petros Wahlallianz, der Pacto Histórico, nur etwa ein Sechstel der Abgeordneten. Und auch von Medienkonzernen und Unternehmensverbänden, von Grossgrundbesitzern und der Armee ist mit massivem Widerstand gegen die angekündigten sozialen und ökologischen Reformen zu rechnen.

Mit Widerstand gegen seine Politik hat Petro Erfahrung: Als er 2013 als Bürgermeister von Bogotá Hand an die lukrativen Einnahmequellen der städtischen Eliten zu legen versuchte – unter anderem an Müllentsorgung und Nahverkehr –, wurde er von der Procuraduría Nacional, einer zentralstaatlichen Disziplinarbehörde, kurzerhand suspendiert. Er gewann zwar später das Berufungsverfahren, doch sein Reformprojekt war erfolgreich torpediert worden.

Auch diesmal wird Kolumbiens Oligarchie nichts unversucht lassen, um Petro zu stoppen. Doch es gibt auch zwei Faktoren, die sein Reformprojekt begünstigen könnten: Zum einen hat der Aufstand von 2021 bewiesen, dass das Land ohne Sozialreformen nicht regierbar ist. Obwohl die Polizei bei den Protesten 80 Menschen tötete und 120 Jugendliche verschwinden liess, dauerten die Strassenschlachten monatelang an.

Zum anderen weiss Petro, der seine Karriere in den siebziger Jahren als illegaler Kader der M19-Guerilla in einem Gemeinderat begann, wie kaum ein anderer, wie man sich als Linker in Institutionen bewegt, die einem tendenziell feindlich gesinnt sind. So hat er seine Karten bislang mit grossem Geschick gespielt. Und etwa mit der Einbindung von Politiker:innen der traditionellen Parteien ist ihm das Kunststück gelungen, dass sich weder Liberale noch Konservative auf eine Oppositionsrolle festlegen wollen.

Gleichzeitig jedoch besitzt das neue Kabinett ein klares transformatorisches Profil: Aussenminister ist der achtzigjährige Konservative Álvaro Leyva Durán, der an allen Friedensprozessen der letzten Jahrzehnte beteiligt war und gute Kontakte nach Kuba besitzt. Für die Friedensverhandlungen mit der ELN-Guerilla ist Danilo Rueda zuständig, bisher Direktor der linken Menschenrechtsorganisation Justicia y Paz. Der sozialdemokratische Ökonom und renommierte Kritiker des Neoliberalismus, José Antonio Ocampo, wurde zum Finanzminister ernannt. Und die Umweltaktivistin Irene Vélez Torres beaufsichtigt nun den Bergbau.

In den sozialen Bewegungen macht man sich indes keine Illusionen über den Charakter des kolumbianischen Staates – kaum jemand glaubt, dass die Linke nun auch wirklich an der Macht ist.

Raul Zelik