Kolumbien : «Hätte ich mich an die Regeln gehalten, würde ich bei Reichen Geschirr spülen»
Die Wahl der Afrokolumbianerin Francia Márquez zur Vizepräsidentin ihres Landes war eine Sensation. Ein Jahr danach ist sie ernüchtert vom Amt und besorgt über die kriminelle Gewalt. Eine Begegnung.
Francia Márquez steht im Hof ihres Palasts in Bogotá und weiss nicht recht, wohin mit ihren Händen, während ein Soldat in Paradeuniform neben ihr eine kolumbianische Fahne drapiert. Vor Márquez geht ein Fotograf in Stellung, hinter ihr erheben sich die Andengipfel, die Kolumbiens Hauptstadt im Osten begrenzen. Márquez wirkt ein wenig verloren in der Szenerie, so als ob ihr der Ort und seine Rituale immer noch fremd wären – und die Macht eher auf ihr lastete, statt sie zu beflügeln.
Márquez ist seit etwas mehr als einem Jahr Kolumbiens Vizepräsidentin. Obwohl dem Amt eine eher untergeordnete Bedeutung zukommt, war die Ernennung der 41-Jährigen eine international beachtete Sensation: Sie ist die erste Afrokolumbianerin, die es in ein so hohes Staatsamt geschafft hat, und die zweite Vizepräsidentin Kolumbiens überhaupt. Sie stammt aus armen ländlichen Verhältnissen im Departement Cauca und war schon als Teenagerin alleinerziehende Mutter. Dass sie einmal Vizepräsidentin Kolumbiens werden würde – neben Brasilien das Land mit der ungerechtesten Wohlstandsverteilung in Südamerika –, war also unwahrscheinlich.
Mordanschlag überlebt
Doch die letztjährigen Wahlen bescherten Kolumbien einen Linksruck. Mit Gustavo Petro, dem ehemaligen Bürgermeister von Bogotá und Exguerillero der Bewegung M-19, wurde erstmals ein Präsident mit dem Versprechen gewählt, für die Armen zu regieren. Márquez als Vizekandidatin verlieh ihm Glaubwürdigkeit: eine Frau aus dem Volk mit Afrofrisur und traditionellen Blusen; eine Feministin und Umweltaktivistin; eine, die nicht aus den europäischstämmigen Zirkeln der Macht und einer der immer gleichen Familien von Grossgrundbesitzern oder Unternehmerinnen kam.
«Ich bin in den Bergen aufgewachsen, umgeben von Flüssen», beschreibt Márquez ihre Herkunft. «Wie viele Frauen in diesem Land musste ich schon früh arbeiten, um zu überleben.» Als Teenagerin war sie Goldsucherin und Hausangestellte. Mit sechzehn Jahren wurde sie schwanger, ihr Partner verliess sie.
Aber sie begann auch, sich politisch zu engagieren. Bereits als Dreizehnjährige setzte sich Márquez gegen ein Staudammprojekt ein, kämpfte später gegen illegale Goldsucher und die Umweltzerstörung ihrer Heimat durch multinationale Minenkonzerne. Ihr Einsatz rief mächtige Gegner:innen auf den Plan. 2014 wurde sie von Paramilitärs vertrieben – was ihren Durchhaltewillen eher noch zu stärken schien. Kurz darauf erlangte sie nationale Bekanntheit, als sie einen mehrtägigen Marsch für die Rechte afrokolumbianischer Gemeinden nach Bogotá anführte.
2019 wurde ein Mordanschlag auf sie verübt, den sie knapp überlebte. Ein Jahr später schloss sie ihr Jurastudium ab. Ein wiederkehrendes Motiv in Márquez’ Leben ist diese Beharrlichkeit im Angesicht existenzieller Bedrohungen. «Wenn ich mich an die Regeln gehalten hätte, würde ich heute in der Küche eines wohlhabenden Hauses Geschirr spülen», sagt sie.
Nun sitzt sie in einem Ledersessel in ihrem klimatisierten Büro und lässt Kaffee servieren. Schon auf dem Weg hierher war deutlich geworden, dass sich etwas geändert hat. Viele Schwarze Frauen arbeiten in Márquez’ Amtssitz als Sicherheitsoffizierinnen und Beraterinnen. In ihrem geräumigen Büro stehen Skulpturen afrokolumbianischer Frauen, Kunstwerke indigener Herkunft schmücken den Raum. In einem Land, dessen Eliten bis heute die europäische Kultur für überlegen halten, ist das ein Statement.
Seit Juli gehört zu Márquez’ Aufgaben auch die Leitung des neu gegründeten Ministeriums für Gleichberechtigung und Gleichstellung. Man sei auf der Suche nach einem Amtssitz, sagt sie. Doch statt Tatendrang vermittelt Márquez Niedergeschlagenheit. Sie sitzt zusammengesunken in ihrem Sessel, spricht leise, blickt oft auf den Boden. Aber sie antwortet auch offen und ausführlich auf jede Frage, redet nicht darüber hinweg, dass es Probleme gibt.
Rund anderthalb Stunden hat sich Márquez für das Gespräch mit einer Handvoll Journalist:innen Zeit genommen, das vom katholischen Lateinamerikahilfswerk Adveniat vermittelt wurde. Sie fühle sich der Kirche sehr verbunden, sagt sie. Diese spiele eine wichtige Rolle im kolumbianischen Friedensprozess, etwa bei den Verhandlungen mit den beiden Guerillagruppen der ELN und der Farc-Dissidenz, die das Friedensabkommen von 2016 nicht akzeptieren.
Das Problem sitzt ganz oben
Angetreten waren Márquez und Petro im August 2022, um eine Regierung des Wandels, der Hoffnung und der «paz total» (totaler Frieden) zu führen. Die erste linke Regierung in der Geschichte Kolumbiens weckte die Erwartung, dass sich endlich etwas ändern werde an der Ungerechtigkeit und der Gewalt im Land.
Inzwischen ist die Euphorie verflogen, Resignation hat sich breitgemacht. Sie spiegelt sich in den Zustimmungsraten der Regierung wider: Zwei Drittel der Kolumbianer:innen bewerten sie als schlecht, und bei den Kommunalwahlen Ende Oktober schnitt die Regierungskoalition Pacto Histórico miserabel ab. Auch eine Schwarze Bürgermeisterkandidatin, die Francia Márquez in ihrer Heimat Cauca unterstützte – sonst eine linke Hochburg –, fiel durch.
Beobachter:innen machen für die Enttäuschung den Präsidenten Gustavo Petro verantwortlich. Dieser ist berüchtigt dafür, Termine in letzter Minute platzen oder seine Gesprächspartner:innen stundenlang warten zu lassen. Er scheint mehr Zeit auf dem Kurznachrichtendienst X zu verbringen, als sich mit der Lösung der Probleme Kolumbiens zu beschäftigen. Mehrfach täglich retweetet er derzeit Bilder aus Gaza. Den kolumbianischen Botschafter hat er aus Israel abberufen. Rätselhaft bleibt sein Lob für den neuen slowakischen Parlamentspräsidenten Robert Fico, der die Fahne der EU aus seinem Büro entfernte. «Was hat das mit uns zu tun?», fragen sich viele Kolumbianer:innen.
Das Land ist seit dem Friedensschluss zwischen der Regierung und der Farc-Guerilla 2016 nicht friedlicher geworden. In einigen Regionen sorgen die ELN und Farc-Dissident:innen für Unruhe. Andernorts herrschen Gruppen des organisierten Verbrechens. Nirgendwo auf der Welt leben soziale Aktivist:innen heute gefährlicher, mehr als tausend wurden seit 2016 in Kolumbien umgebracht, die meisten im Departement Cauca, der Heimat von Márquez.
Anders als ihre Vorgänger setzt die Regierung Petro nicht aufs Militär, sondern auf Dialog. «Ich sehe keinen anderen Weg», sagt Márquez. «Nach siebzig Jahren bewaffnetem Konflikt waten wir im Blut. Ich hoffe, dass diese Gruppen verstehen, dass es so nicht weitergehen kann.»
Bislang bleibt das eine Hoffnung. Erst vor wenigen Tagen verliess der Estado Mayor Central, eine Dissidentengruppe der Farc, den Verhandlungstisch und warf der Regierung vor, weiterhin eine militärische Lösung zu verfolgen. Andernorts sind ehemalige paramilitärische Gruppen wiedererstarkt, etwa der Golf-Clan, Kolumbiens grösste kriminelle Organisation. Wie mit ihr ein Dialog möglich sein soll, bleibt ein Rätsel.
Sein Kabinett, das mit erfahrenen Leuten besetzt war, hat Präsident Petro unterdessen fast komplett ausgetauscht. Nun sitzen dort Neulinge mit wenig Regierungspraxis, aber viel Idealismus. Erfolgreiche Politik wird anders gemacht. Es ist ein Lehrstück dafür, wie wieder einmal ein vielversprechendes linkes Projekt in Lateinamerika an der Selbstherrlichkeit einer Person zu scheitern droht.
«Wenn man nicht aufpasst, kann man sich an der Macht betrinken», sagt Francia Márquez, die Petro nie kritisiert, aber auch keinen Hehl daraus macht, mehr vom Regieren erwartet zu haben. Es sei schwierig, etwas in Kolumbien zu verändern, sagt sie, spricht von den starken Widerständen, mit denen man zu kämpfen habe: Kolumbiens Eliten seien nicht bereit, ihre Privilegien zu teilen, seien vielmehr schockiert darüber, dass auf dem Gruppenfoto der Mächtigen auf einmal andere Gesichter auftauchten. «Dass ich in diesem Palast sitze, schafft Unbehagen», sagt sie. «Ich repräsentiere ein Kolumbien, das vorher unsichtbar war.»
Für einen Teil des schlechten Images der Regierung macht sie auch die Medien verantwortlich, wirft ihnen «Boshaftigkeit» vor. «Sie tun so, als ob die Kolumbianer sich für uns schämen müssten.» Tatsächlich schlachten einige Medien jedes Missgeschick von Márquez aus, bezeichnen sie als unkontrolliert und unprofessionell. «Wenn du als Frau laut redest, bist du aggressiv. Wenn du als Mann laut redest, zeigst du angeblich Stärke», sagt sie. «Wo ich herkomme, gingen die Frauen mit Macheten zum Fluss, um illegale Goldgräber zu vertreiben. Sie konnten nicht lesen und schreiben, aber ihre Worte hatten Gewicht.»
Neue Wege in der Drogenpolitik
Es ist vor allem die Diskrepanz zwischen der Praxis des Aktivismus und den Mühlen des Staates, die Márquez am meisten zu frustrieren scheint. «Ich möchte die Dinge schnell erledigen», sagt sie und schnippt mit Daumen und Mittelfinger. Aber die Institutionen verhinderten schnelle Antworten.
Zur Veranschaulichung erzählt sie vom Besuch bei einer indigenen Gemeinde, die aus Kokablättern Dünger herstellt, diesen aber nicht vermarkten kann, weil es kein Gesetz gibt, dass die legale Verarbeitung von Kokablättern regelt. «Die Leute sagten mir aufgeregt: ‹Präsidentin, damit werden wir dem Drogenhandel ein Ende setzen.› Sie haben den Wunsch nach einem Neuanfang. Aber ich konnte ihnen keine positive Antwort geben. Ich verstehe, dass sie enttäuscht sind.» Auf der anderen Seite sei sie gerührt, wenn sie merke, dass ihr Erscheinen den Menschen Hoffnung gebe, weil sich der Staat in vielen armen Regionen Kolumbiens bisher nur in Gestalt von Soldat:innen habe blicken lassen.
Bei der für Kolumbien so wichtigen Frage der Drogen nimmt die Regierung Petro eine erfrischend neue Position ein: keine Vernichtungsprogramme für Kokaplantagen mehr, stattdessen wird die Verantwortung der Konsument:innenländer betont. «Der Drogenhandel funktioniert durch Korruption», erklärt Márquez. Wo werde das Drogengeld gewaschen? «In Banken rund um die Welt.» Tatsächlich traf die bisherige Strategie vor allem die Schwächsten in der Produktionskette, die Kleinbäuer:innen. Diese bauen Koka an, weil sich etwas anderes für sie nicht lohnt und der Staat die grossen Latifundien unterstützte. «Es gibt einen Preisstabilisierungsfonds für die Zuckerindustrie, etwas Ähnliches für Kleinbauern existiert aber nicht», erklärt Márquez. Dort müsse man ansetzen.
Dass alles schlecht laufe, will sie aber nicht gelten lassen. Stolz ist sie etwa auf die Unterzeichnung des Gesetzes 70/93, das das Recht auf kollektives Eigentum, den Schutz der kulturellen Identität sowie die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung afrokolumbianischer Gemeinden regelt. «Die Unterzeichnung war historisch», sagt sie. Und dennoch: Francia Márquez, die Hoffnungsträgerin, ist so frustriert über ihre Regierungserfahrung, dass sie ankündigt, nicht erneut für ein Amt antreten zu wollen: «Ich gehöre nicht in dieses Ambiente. Ich wünsche mir einen raschen Wandel, aber in der Politik geht das nicht.»