Vorbild Thurgau: Der Energiewendekanton
Kann in Kantonen und Gemeinden gelingen, was national blockiert ist: eine Energiepolitik, die wirklich die Wende bringt? Ausgerechnet im konservativen Thurgau gibt es erfreuliche Entwicklungen.
Mitten im Thurgau, im lieblichen Osten der Schweiz, wo die Dinge so scheinen, wie sie immer waren, geschieht Unerhörtes. Auf halbem Weg zwischen Frauenfeld und Weinfelden, dort, wo der Wellenberg sanft abebbt und sich ins weite Tal der Thur ergibt, liegt das Dorf Amlikon-Bissegg: weit über die Landschaft verstreute Weiler, die sich 1995 zu einer einzigen Gemeinde zusammengetan haben. Zu bedeutungsvoller Grösse ist Amlikon damit nicht gelangt, bloss gut 1300 Bewohner:innen leben im Dorf.
Doch Amlikon hat etwas geschafft, was in der Schweiz nur in quälend langsamen Schritten vorwärtskommt: Die Gemeinde hat die Energiewende vollzogen. Das Dorf produziert übers ganze Jahr betrachtet die dreieinhalbfache Menge Strom, die sie selber benötigt. Selbst im Winter kann sie ihren Strombedarf selber decken. Das Stromwunder von Amlikon-Bissegg – Vorbild für ein Land, in dem die Energiewende im politischen Streit, in Lobbyschlachten und Mutlosigkeit stecken bleibt?
Amlikons grüne Revolution
Gemeindepräsident Thomas Ochs hat gerade Telefondienst, als er die Erfolgsgeschichte seiner Gemeinde erklären soll. Bürger:innen melden sich bei ihm, um ihre Anliegen zu deponieren. Viele davon drehen sich um saubere Energie. Zwanzig Gesuche für Fotovoltaikanlagen schaffen es jedes Jahr auf seinen Tisch, dazu wollen viele Amliker:innen Schnellladestationen für ihre Elektrofahrzeuge errichten oder Erdsonden in den Boden einlassen, um ihre Häuser zu beheizen.
Wie hat eine Gemeinde, die politisch erzkonservativ ist, in der 2019 die SVP fast sechzig Prozent der Stimmen erhielt, die grüne Revolution hinbekommen? Ochs hat eine kurze und eine lange Antwort. Die kurze lautet: «Es lief wie immer im Leben übers Portemonnaie.» Nachdem Bundesrat und Parlament 2011 unter dem Eindruck der Katastrophe von Fukushima den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen hatten, lancierte die Gemeinde einen Fonds, um Solaranlagen zu fördern. Gefüllt wird dieser mit einer Abgabe auf dem Stromverbrauch in der Höhe von dreissig bis vierzig Franken pro Haushalt und Jahr. An der Gemeindeversammlung, erinnert sich Ochs, habe es damals kaum Gegenstimmen gegeben, sein Vorgänger Othmar Schmid, ein begnadeter Tüftler und Verkäufer, habe den Saal vom neuen Energiekonzept überzeugt, «und dann ging der Boom los». Aus dem Fonds bezahlte Amlikon für jede gelieferte Kilowattstunde 25 Rappen – ein rekordhoher Tarif.
Um den Umbau reibungslos zu ermöglichen, liess die Gemeinde in allen Liegenschaften digitale Stromzähler installieren, die extern ausgelesen werden können. Die örtliche Käserei konnte dafür gewonnen werden, den Betrieb ihrer Biogasanlage mittels einer neuartigen Software so umzustellen, dass diese vor allem während Spitzenzeiten Strom liefert. Und ganz nebenbei schloss die Gemeinde auch noch alle Haushalte an ein stromsparendes Glasfasernetz an.
Amlikon-Bissegg mag eine aussergewöhnlich erfolgreiche Energiepolitik verfolgen, doch das Dorf passt damit ganz gut in den Kanton Thurgau. Am Bodensee wird der Umbau auf erneuerbare Energien seit Jahren intensiv vorangetrieben. In praktisch allen Rankings, die zur Wirksamkeit der Förderpolitik gemacht werden, zählt der Kanton zu den Besten. 2014 kürte ihn der WWF gar zum fortschrittlichsten Kanton im Land. Weil die Stromgewinnung aus Wasserkraft aufgrund der geringen Gefälle seiner Flüsse kaum möglich ist, setzte der Thurgau früh auf die Nutzung der Sonnenenergie. Mittlerweile liefern Fotovoltaikanlagen zehn Prozent des verbrauchten Stroms – ein Spitzenwert in der Schweiz.
«Stark konsensfähig»
Die Stellung des Thurgaus überrascht. Politisch ist der Kanton von einer rechtsbürgerlichen Mehrheit dominiert. SP und Grüne liegen bei rund 11 Prozent Stimmenanteilen, die SVP kommt auf über 32 Prozent. Das wichtige CO₂-Gesetz lehnten letztes Jahr fast 60 Prozent der Stimmenden ab. Trotzdem geht es in der Energiewende voran. Fragt man Andrea Paoli, Leiter Energie in der kantonalen Verwaltung, nach den Gründen, verweist er auf die politische Kultur im Kanton: «Ich erlebe, dass man in der Politik stark konsensfähig ist. Parlament und Regierung geben die Richtung vor und finden meist Kompromisse.» Und er sagt: «Die Politik hat erkannt, dass Energieförderung Wirtschaftsförderung ist.»
Auch Kurt Egger, Thurgauer Nationalrat für die Grünen, glaubt an einen tragfähigen politischen Konsens: «Wir haben hier keine Fundamentalopposition der SVP, die eher moderat auftritt. Ganz im Gegenteil zum Parlament in Bern oder auch zum Kanton St. Gallen, der mit seiner Energiepolitik weit zurückliegt.» Dazu komme, dass sich auch einflussreiche Organisationen wie der Hauseigentümerverband oder der Bauernverband konstruktiv zeigen würden. «Unsere Wiesen sind braun, das Trinkwasser knapp – die Bauern spüren die Folgen des Klimawandels deutlich», sagt Egger.
SVP trägt Energiewende mit
Nachfrage bei Paul Koch, SVP-Kantonsrat. Seine Fraktion unterstützt immer wieder energiepolitische Vorstösse von Grünen, SP und Grünliberalen. Zuletzt, als es um eine schnellere Ablösung von fossilen Energieträgern ging. Koch sagt: «Wir ticken ein bisschen anders als die nationale SVP.» Auch er lobt den Grundkonsens unter den Parteien. Seine Partei habe sich von Beginn weg für das Förderprogramm für erneuerbare Energien eingesetzt, sagt er. Und dem Förster Koch geht es in seinem Kanton nicht schnell genug. Er findet etwa, der Kanton müsse mehr auf Holz setzen und er solle Wärmeverbünde fördern, damit nicht jedes Haus seine eigene stromfressende Wärmepumpe installiere. Eine SVP, die sich für eine wirksamere Klimapolitik einsetzt – wo gibt es das sonst?
Kochs Kritik wird vom Grünen Egger geteilt. Er sagt: «Wir waren ein Vorreiterkanton, heute haben uns andere überholt.» Der Thurgau, vor allem die Regierung, müsse den Umbau deutlich beschleunigen. «Es muss viel schneller vorwärtsgehen.» SP-Energiepolitikerin Elina Müller sieht die Grenze des politischen Konsenses dann erreicht, wenn es um neue Vorschriften geht: «Nur Massnahmen, die allein auf Anreize setzen, werden von allen unterstützt.» Zuletzt scheiterten Vorstösse für eine Solarpflicht und den Zubau von Elektroladestationen.
Fünf Seethermiewerke
Tatsächlich ist der Kanton mit seiner auf Anreize ausgelegten Strategie relativ weit gekommen. Aber die Frage ist, ob das angesichts der dramatischen Klimaerhitzung und drohender Versorgungslücken bei Strom und Gas noch ausreicht. Selbst Andrea Paoli, Leiter der Abteilung Energie, ist sich nicht sicher, ob es nicht doch Ergänzungen braucht. «Wir machen das, wofür es eine gesellschaftliche Akzeptanz gibt, aber möglicherweise müssen wir auch Vorschriften erlassen.» Er denkt an eine Solarpflicht bei umfassenden Dachsanierungen, wie sie andere Kantone schon kennen.
Vorderhand setzt Paoli auf die bewährten Instrumente. Im Zentrum davon steht ein Fördersystem, das sein Amt jedes Jahr anpasst. Zuletzt subventionierte der Kanton den Kauf eines Elektroautos mit 2000 Franken, nach drei Jahren und einer starken Zunahme der Zahl von E-Autos stellte er das Programm wieder ein. Dafür fördert der Thurgau jetzt als Pionierkanton Solargrossanlagen. Dutzende Gesuche sind bereits eingegangen, seit die Förderung angelaufen ist. Die nächste grosse Etappe sind rund fünf in Planung stehende Seethermieanlagen, die im Winter Wärme und im Sommer Kälte aus dem Bodensee ziehen sollen. Die erste soll kommendes Jahr in Bau gehen.
So geht es Schritt für Schritt vorwärts. Weil im Kanton Thurgau und in Gemeinden wie Amlikon-Bissegg erkannt wurde, dass die schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien eine rationale Notwendigkeit ist – und dass alle dabei gewinnen.