Energiewende: Hilferuf vom Breithorn
Paradoxe Situation im Parlament: Eine rechtsbürgerliche Lobby treibt den Ausbau der erneuerbaren Energien mit ungekannter Dringlichkeit voran. Was steckt dahinter?
Ende letzter Woche machte sich ein Brief mit brisantem Inhalt auf den Weg. Vom Bergrücken des Oberwalliser Breithorns runter ins Tal, durch den Lötschberg nach Bern und rein ins Parlament. Schliesslich ins Postfach von Nationalratspräsidentin Irène Kälin. Ein Brief, verfasst von einer Bauernfamilie, deren Alp einem dieser grossen, glitzernden Projekte zu weichen droht, die der Schweiz die Energiewende bringen sollen. Ein Brief, der quer liegt zur neuen hochenergetischen Stimmung in Bundesbern. Wo in der Energiepolitik plötzlich alles möglich erscheint, was jahrelang blockiert war. Wo endlich alles rundläuft – oder etwa doch nicht?
Dringlichkeit verdrängt Debatte
Peter Grabers* frühste Erinnerung an die Alp Furggen hoch über der kleinen Gemeinde Grengiols ist, wie er als siebenjähriger Bub das erste Mal mit den Kühen hilft. Er hat seinen Vater und seinen Grossvater auf der Alp arbeiten sehen. Heute ist Graber sechzig Jahre alt. Er hofft, dass bald seine Kinder die Bewirtschaftung der Alp übernehmen. «Es wird schon jemand weitermachen», sagt er. Aber ob es dazu kommt, kann er kaum beeinflussen. Das entscheidet sich in diesen Tagen auch im Parlament in Bern.
Dort ist gerade Herbstsession, der Fokus liegt auf der wackligen Energieversorgung. Entsprechend hektisch ist der Betrieb. Bewährte Massstäbe gelten nichts mehr, Dringlichkeiten verdrängen Debatten. Vor allem aus dem Ständerat kommen immer neue Vorschläge. Angekoppelt an den Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, soll einerseits eine Solarpflicht für Neubauten kommen, andererseits der Bau von Solargrossanlagen beschleunigt werden. Keine Umweltverträglichkeitsprüfung mehr, keine Planungspflicht. Alle Regulierungen, die für den von der Verfassung verlangten Ausgleich der Interessen sorgen sollen: pulverisiert.
«Die Umwelt wird der
Lynchjustiz ausgeliefert.»
Kurt Fluri, Präsident der Stiftung Landschaftsschutz
Das Gesetz ist auf zwei Grossprojekte zugeschnitten, die in Planung oder angekündigt sind. Beide liegen im Wallis, eines davon in Grengiols. Auf der Alp Furggen soll im Winter 2023/24 die grösste Solaranlage im Alpenraum in Betrieb gehen. Hunderte doppelseitige Fotovoltaikmodule würden dann meterhoch auf Stelen aus dem Boden ragen und gemäss Angaben der Initiant:innen um den umtriebigen ehemaligen SP-Präsidenten und heutigen Hotelier Peter Bodenmann bis zu zwei Terawattstunden Strom pro Jahr liefern – drei Prozent des nationalen Stromverbrauchs. Noch ist jedoch vieles unklar: Wie wird das Material auf die Alp geschafft? Ist der Baugrund überhaupt geeignet? Wie kann die Anlage ans Netz angeschlossen werden? Doch mit dem neuen Gesetz könnte trotzdem drauflosgebaut werden, sobald die Gemeinde damit einverstanden ist. Selbst den bundesrätlichen Segen hat «Grengiols Solar». «Wir wissen alle, dass ein ordentliches Bewilligungsverfahren Zeit braucht», sagte Simonetta Sommaruga in der Debatte. Bedenken gegen das Vorgehen wischte sie mit dem Hinweis auf die einträchtige Unterstützung im Dorf vom Tisch.
Powerplay der Lobbyisten
Milchbauer Peter Graber sagt dagegen, Bodenmann habe dem armen Dorf so viel Geld versprochen, «da traut sich niemand, dagegen zu sein». Er enthielt sich an der Gemeindeversammlung, als konsultativ über die Solaranlage abgestimmt wurde, «ich will ja nicht das ganze Dorf gegen mich haben». Seine Situation findet in der laufenden politischen Debatte keine Erwähnung. Auch nicht in all den bewundernden Reportagen aus Grengiols, die seit der Ankündigung des Projekts erschienen sind. «Der Grund, Ihnen diesen Brief zu schreiben, ist eine verzweifelte Hoffnung, auf unsere Existenz als Bewirtschafter aufmerksam zu machen», schreibt er an Irène Kälin. Sein Schicksal ist noch nicht mal ein Kollateralschaden in der laufenden Diskussion um einen schnellen Zubau der Erneuerbaren.
«Ich bin völlig baff», sagt FDP-Nationalrat Kurt Fluri, angesprochen auf die Dynamik, mit der Energieprojekte vom Ständerat vorangetrieben werden. Er meint das nicht im positiven Sinn. Fluri, auch Präsident der Stiftung Landschaftsschutz, klagt: «Wir erleben einen umweltrechtlichen und staatsrechtlichen Irrsinn. Die Umwelt wird der Lynchjustiz ausgeliefert.» Fluri hat als Treiber der bedenklichen Entwicklung den Walliser Mitte-Ständerat Beat Rieder, der die Interessen der Gebirgskantone vertrete, ausgemacht. Und seinen FDP-Kollegen Ruedi Noser, der für die Wirtschaft agiere. Es sind neue Kräfte, die für die erneuerbaren Energien weibeln. Nicht links-grüne, sondern rechtsbürgerliche. Dahinter stecke eine gewisse Panik, sagt Fluri, dass der Winterstrom nicht reiche, «aber es geht auch ums Geld und darum, den verhassten Umweltverbänden eins reinzubremsen».
Das Powerplay von Rieder und Noser ist so aggressiv, dass sich selbst Solarlobbyorganisationen davon distanzieren. «Der Gesetzesentwurf entstand ohne Rücksprache mit uns», sagt David Stickelberger, Geschäftsleiter des Branchenverbands Swissolar. Er befürchtet einen Imageschaden für die Solarenergie. Beim Projekt in Grengiols ist er skeptisch: «Es gibt bisher keine Planung, da hat einfach jemand ein Rechteck auf eine Landkarte gezeichnet.» Doch das reicht schon im Krisenjahr 2022, um zum Hoffnungsträger für die schnelle Energiewende zu werden.
Das atemberaubende Tempo, in dem nun die erneuerbare Stromproduktion ausgebaut werden soll, steht im Kontrast zum jahrelangen Stillstand. Doppelt paradox: «Denselben Leuten, die früher auf der Bremse standen, kann es heute nicht schnell genug gehen», stellt SP-Umweltpolitikerin Martina Munz fest. Die drohende Stromlücke scheint die perfekte Gelegenheit zu bieten, an neue Subventionen zu gelangen und störende Regularien zu beseitigen. Das Rennen dafür ist eröffnet. Der fleissige Lobbyist Rieder fordert schon neue Subventionen für Stromfirmen zum Ausbau der Wasserkraft, obwohl dort ohne massive Eingriffe in die Natur kaum Potenzial für neue Kraftwerke besteht.
«Verfassungswidrig»
Rieders Parteikollegin aus Luzern, Mitte-Nationalrätin Priska Wismer, vertritt derweil als Vizepräsidentin der Lobbyorganisation Suisse-Eole die Interessen der Windenergie. «Solar hat es vorgemacht, jetzt haben auch die Vertreter der anderen Energieträger gemerkt, dass etwas drinliegt», sagt sie. Wismer verlangt, dass vom Bundesgericht bewilligte Projekte sofort realisiert werden können, ohne weitere Einsprachemöglichkeit. So könnten neun bis zehn derzeit blockierte Windkraftparks in den nächsten Jahren gebaut werden.
Dass aufs Tempo gedrückt wird, ist keine schlechte Sache. Das sieht auch SP-Frau Munz so. Bei der Windkraft müsse dringend etwas gehen. Und im Solarbereich sei eine alpine Grossanlage als Pilotprojekt wünschenswert. Allerdings nicht jene von Peter Bodenmann in Grengiols, die sie als unausgereift einstuft. «Ich habe mich informiert, viele wichtige Fragen sind ungeklärt», sagt sie. Aber das kleinere Projekt in Gondo, dort lägen alle wichtigen Abklärungen auf dem Tisch. Die weiteren Projekte solle man in einer beschleunigten, aber ordentlichen Gesetzgebung regeln, fordert sie. Der dafür eigentlich vorgesehene Mantelerlass zur Förderung der erneuerbaren Energien wurde geraume Zeit im Ständerat hin- und hergeschoben, wo Kreise um den Walliser Beat Rieder jetzt plötzlich grösste Dringlichkeit erkannt haben – letzte Woche lancierten sie im Ständerat einen Angriff auf den Landschaftsschutz (siehe WOZ Nr. 37/22).
Allerdings steht nun das Bundesamt für Justiz auf der Bremse: In einem Gutachten hat es festgestellt, dass die «Solaroffensive» mit ihrem Aushebeln der Bewilligungsmechanismen gegen die Verfassung verstösst. Damit müsste – zieht das Parlament die Sache durch – die Stimmbevölkerung zwingend über die Solaroffensive abstimmen.
Für den Walliser Bergbauern Peter Graber ist das ein Erfolg. Auch wenn noch unklar ist, ob für «Grengiols Solar» nicht doch noch ein Türchen aufgeht. Dass er aber auf seiner Alp bleiben, seine fünfzig Kühe und vierzig Jungtiere auch weiterhin auf der Schulter des Breithorns sömmern kann, ist gleichwohl unwahrscheinlich. Nachdem sein Brief die Runde im Nationalrat gemacht hatte, erhielt Graber einen Anruf von Grengiols’ Gemeindepräsidenten Armin Zeiter, einem energischen Befürworter des Projekts. Zeiter offenbarte Graber, er sei sehr enttäuscht von ihm. Dann erklärte er ihm, die Bewirtschaftung der Alp werde neu ausgeschrieben. «Das Land gehört der Bürgergemeinde, und es gibt noch weitere Interessenten», begründet Zeiter auf Anfrage kühl.
* Name geändert.