Sechs Monate Krieg : Dort hinten, im Osten

Nr. 34 –

In der Ukraine zählen sie die Tage. Überall erinnern sie daran, wie lange Moskaus Krieg gegen die Existenz ihres Landes schon andauert. An Tag 175 schlagen in Charkiw in Wohnhäusern und einem Kulturzentrum Raketen ein. 21 Menschen sterben, Dutzende weitere werden verletzt. An Tag 179 feuert die russische Armee laut ukrainischen Angaben dreizehn Mal auf Stellungen rund um den Ort Bachmut im Donbas, der sich seit Wochen unter Dauerbeschuss befindet. Für Mittwoch, den 24. August – den Tag, an dem die Ukraine vor 31 Jahren ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangte –, verhängen die Behörden Ausgangssperren in den Städten: aus Angst, dass die Angriffe an diesem symbolträchtigen Datum besonders brutal ausfallen könnten. Und über allem ertönen die Sirenen des Luftalarms.

Sechs Monate schon führt Russland Krieg gegen die Ukraine, Tag für Tag sterben Menschen, wird Infrastruktur zerstört. Unermessliches Leid und immer neue Schreckensmeldungen, gestohlene Leben und zerplatzte Träume. Doch je länger der Krieg andauert, desto mehr schreitet auch dessen Normalisierung voran: Als Symbol dafür stehen die Schlagzeilen der grossen Zeitungen, auf deren Titelseiten die Nachrichten aus der Ukraine immer seltener Platz finden. Butscha, Irpin und Mariupol: Die Namen dieser Städte haben sich als Chiffren für russische Verbrechen ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Doch wie heissen die Orte, von deren Verwüstung wir hier in Westeuropa längst nichts mehr hören?

Die Menschen in der Ukraine haben dieses Privileg, das der Frieden mit sich bringt, nicht. Und auch die Diaspora kann sich das Vergessen nicht leisten. Mit der Normalisierung geht indes eine Verschiebung einher: Für viele hier findet der Krieg inzwischen wieder «irgendwo im Osten» statt – und das längst nicht nur, weil sich die umkämpften Gebiete in der Ostukraine befinden. Sollen die da hinten doch Kompromisse schliessen, am besten gleich ganz kapitulieren – oder wenigstens nicht mehr so viele Forderungen stellen, ertönt es in Talkshows und aus Politikermündern. Und jene, die sich seit Jahren mit der Verfasstheit des russischen Regimes beschäftigen, die ukrainischen und russischen Expert:innen und Intellektuellen, werden wieder auf ihre Statist:innenplätze verwiesen.

Zweifellos hat auch bei anderen Kriegen irgendwann eine Gewöhnung eingesetzt. Doch noch selten waren die Worte, die zu Beginn fielen, so grossspurig: Vom «Paradigmenwechsel», gar einer «Zeitenwende» war die Rede, von «westlichen Werten», die die Ukraine verteidige, von heroischen Frauen und Männern, die «für uns alle» und die Demokratie kämpften. Doch was ist von diesen Worten geblieben?

Politisch fällt das Fazit bescheiden aus. Noch immer können sich russische Oligarchen und Staatsbedienstete frei in Europa bewegen, weil ihre Namen auf den Sanktionslisten fehlen. Noch immer bleibt russisches Vermögen auf Schweizer Konten unangetastet. Auch der Öl- und Gashandel über die Schweiz geht unvermindert weiter. Die Konzerne verdienen daran und werden nicht einmal extra besteuert.

Dass Europa vor einer Energiekrise steht, hat eine politische Elite zu verantworten, die für den eigenen Profit noch so gern mit Autokraten geschäftet. Im Kreml löst diese Käuflichkeit bloss Schadenfreude aus; dass die Angst um die eigene Existenz die Solidarität mit der Ukraine schwinden lässt, ist Teil von Putins perfidem Plan. Wegschauen und weitermachen ist in westeuropäischen Hauptstädten wieder vermehrt die Devise. Business as usual. Und wenn nicht mit Russland, dann mit Katar oder China. Verhandlungen, die nicht die ukrainische Regierung, sondern Russlands Regime zu Konzessionen zwingen, sind derweil keine in Sicht.

Hätte man den postsowjetischen Stimmen in den letzten Jahren zugehört, wäre heute vieles anders. Denn der Krieg, den der Kreml gegen die Ukraine führt, dauert nicht erst sechs Monate, sondern acht Jahre. Eines aber sollte inzwischen allen klar sein: Ein Zurück in die wohlige Gewissheit westeuropäischer Illusionen wird es nicht geben. Es existiert längst kein ruhiges Hinterland mehr, «dort hinten» im Osten. Aber tun wir hier alles für die Menschen dort, was wir tun können?