Krieg gegen die Ukraine : Die Peripherie im Zentrum
2022 lässt sich die Zeit mit einer Reise messen: Seit zehn Monaten ist die Ukraine dem russischen Angriffskrieg ausgesetzt, seither hat Präsident Wolodimir Selenski das Land nicht verlassen. Am Mittwoch nun reiste er das erste Mal ins Ausland: nach Washington, um Joe Biden zu treffen.
Gemessen am Leid der Ukrainer:innen sind zehn Monate unendlich lange. Doch in Wahrheit dauert dieses Leid schon viel länger. Es war im Frühling 2014, als das russische Regime mit der Annexion der Krim und der Einmischung im Donbas den Krieg ins Nachbarland brachte. War der Aufschrei über die gewaltsame Verschiebung der Grenzen im Westen anfangs gross, nahmen bald nur noch wenige von den Kampfhandlungen Notiz, die über die Jahre Tausende Opfer forderten und Millionen Menschen zu Vertriebenen machten.
Wie ein Frieden ausgestaltet wird, können nur die Ukrainer:innen bestimmen.
Acht Jahre vergingen, bis der russische Angriff auf die gesamte Ukraine das Land von der Peripherie ins Zentrum des europäischen Bewusstseins katapultierte, Städte wie Charkiw, Odesa und Cherson auf die europäische Landkarte. Längst habe man das «Zeitalter der Extreme», wie der marxistische Historiker Eric Hobsbawm einst das 20. Jahrhundert nannte, hinter sich gelassen, glaubten viele – bis sich die Geschichte mit einem Knall zurückmeldete.
Zu lange war die Entwicklung im Kreml ignoriert worden, dessen Vorreiterrolle für autoritäre Machthaber auf der Welt. Nach dem 24. Februar schien es, als hätten die westlichen Eliten zumindest die Geschichtsträchtigkeit des Augenblicks begriffen. Doch lange stand das Fenster der Möglichkeiten nicht offen.
Expert:innen gehen davon aus, dass der Krieg noch Jahre weitergehen könnte. Tausende Tote mehr, Millionen auf der Flucht. Um die Menschen in einem Land, das sich nicht beugen will, zu terrorisieren, beschiesst die russische Armee seit Wochen die kritische Infrastruktur. In den Wintermonaten sollen die Ukrainer:innen in dunklen, kalten Wohnungen ausharren müssen – und so zermürbt werden. Dass dies zurzeit das Primärziel seiner Armee ist, gibt der Kreml unumwunden zu. Das ist nicht bloss zynisch, sondern ein Kriegsverbrechen.
Im Donbas leben die Menschen vielerorts seit Monaten in Kellern, Kinder wachsen auf, ohne das Tageslicht zu erblicken, die Älteren haben keinen Ort, an den sie fliehen können, nicht die Mittel dafür und noch viel öfter nicht die Kraft. Aufstrebende Städte wie Mariupol, Tschernihiw oder Lyman sind heute wenig mehr als Trümmerfelder.
Im Westen macht sich dennoch Desinteresse am Krieg breit, auch unter Linken. Oder, wie ein Freund kürzlich in einer stockdunklen Bar in Kyjiw meinte, nur Stunden nach einem Raketenbeschuss: «Es wäre sicher leichter für euch, wenn die USA uns überfallen hätten. Aber das können wir leider nicht anbieten.»
Es ist eine schmerzliche Erkenntnis: Auch viele Linke verharren in überholten Deutungsmustern wie dem eines vermeintlichen Stellvertreterkriegs zwischen Russland und der Nato. Dabei wäre die Zeit längst reif für grundlegende Fragen: Wie lässt sich ein solidarischer Internationalismus heute denken? Einer, der neue Perspektiven berücksichtigt – aus dem Osten Europas, aus dem Globalen Süden, aus Peripherien wie Taiwan? Wo es hierzulande manch einem an Vorstellungskraft mangelt, haben Linke in der Ukraine die Kategorien längst neu geordnet: Von Kyjiw aus senden sie solidarische Grüsse nach Teheran oder ins Klimacamp im deutschen Lützerath.
Auch für die Schweiz stellen sich alte Fragen neu: Statt militärischer Planspiele um einen Nato-Beitritt braucht es eine breite Debatte über die globale Rolle des eigenen Wirtschafts- und Wohlstandsstandorts. Oder wie lange sollen unsere Gesetze dem Finanzplatz noch dabei helfen, Autokraten und ihre Oligarchen zu stützen? Aus Schweizer Sicht ist Sicherheits- vor allem Steuerpolitik.
So unerträglich lange der Krieg gegen die Ukraine noch dauern mag, irgendwann wird er Geschichte sein. Wie ein Frieden ausgestaltet wird, können nur die Ukrainer:innen bestimmen. Garantien für ihre Sicherheit müssen bei jeder Überlegung im Zentrum stehen. Von unten und aus der Peripherie: Nur so wird sich das 21. Jahrhundert begreifen lassen.