Krieg gegen die Ukraine: Aus sicherer Distanz
Unterschiedlicher hätten die Auftritte nicht sein können: Da war Joe Biden, der sich in Warschau so pathetisch inszenierte, wie es nur US-Präsidenten in den Sinn kommt. «Vor einem Jahr dachte man, Kyjiw würde fallen. Von meinem Besuch dort kann ich berichten: Kyjiw steht – stark, stolz, gross und vor allem frei», rief er der jubelnden Menge zu. In krassem Kontrast dazu sprach Wladimir Putin gleichentags fast zwei Stunden lang vor versteinert dreinschauenden Parlamentarier:innen – und stimmte das heimische Publikum auf den Krieg als Normalzustand ein, von Einlenken keine Spur. Statt Worte zur Lage an der Front bloss ökonomische Beruhigungspillen für eine verunsicherte Bevölkerung.
Als einigen im Saal längst die Augen zugefallen waren, erklärte Putin die Aussetzung des Atomwaffenvertrags «New Start». Erstmals seit den siebziger Jahren ist damit zwischen der Sowjetunion oder Russland und den USA kein Abkommen zur Rüstungskontrolle mehr in Kraft – eine Neuauflage des Kalten Kriegs. Die Welt, sie ist am Dienstag noch ein Stück gefährlicher geworden.
Diesen Freitag jährt sich Russlands Angriff auf die ganze Ukraine. Fernab der grossen Inszenierungen geht die Invasion mit unverminderter Brutalität weiter. Während Putin redete, beschoss seine Armee Bushaltestellen und Wohnhäuser in Cherson. Wieder Tote und Verletzte. Ein Ende des sinnlosen Mordens ist nicht in Sicht.
Das letzte Jahr brachte den Ukrainer:innen unendliches Leid. Unzählige Ortsnamen als Fanale der Zerstörung. Da waren die Massaker von Butscha, die die Öffentlichkeit schockierten. Der Beschuss des Bahnhofs von Kramatorsk, wo Hunderte hilflose Menschen auf ihre Evakuierung warteten. Da war das stolze Mariupol, das die russische Armee dem Erdboden gleichmachte. Die Angriffe auf einen zentralen Platz in Winnyzja und ein Wohnhaus in Dnipro, auf kritische Infrastruktur im ganzen Land. Grausamkeiten, die in der Ukraine niemand vergisst.
Zur Rückschau gehört auch die Erinnerung an einen Krieg, den man im Westen so wenig begriff, dass man ihn stets bloss Konflikt nannte. Doch im Donbas – der Region, die auch heute am stärksten umkämpft ist – hörte die Normalität schon 2014 auf. Wenn dieser Tage grosse Schlagzeilen von Zeitenwenden und historischen Besuchen geschrieben werden, darf diese jahrelange Ignoranz nicht vergessen gehen.
Doch da waren, trotz allem, auch die positiven Nachrichten. Kaum jemand hatte im Frühling gedacht, dass der russische Angriff auf Kyjiw abgewehrt werden würde. Im Spätsommer dann befreite die ukrainische Armee die Region um Charkiw, im Herbst Cherson. 2022 war damit auch ein Jahr, in dem die Menschen eines Landes, das vorher nur wenige auf dem Schirm hatten, viele mit ihrem Widerstandsgeist überraschten.
Für die Menschen in Russland, die sich dem Regime widersetzten, war das Jahr derweil von einer tragischen Gewissheit geprägt: dass die Autokratie, in der sie lebten, vollends zur Diktatur geworden war. Der Kreml liess die letzten freien Medien mundtot machen, Menschenrechtsorganisationen schliessen, Oppositionelle inhaftieren. Tausende waren zur Flucht gezwungen. Hunderttausende, darunter oft die Ärmsten der Armen, wurden und werden an die Front in den sicheren Tod geschickt. Umso mehr muss an jene Mutigen erinnert werden, die trotz aller Repression nicht aufgeben: Sie zünden Einberufungsbüros an, weil Protest auf der Strasse aus ihrer Sicht wirkungslos bleibt. Sie helfen Ukrainer:innen, legen vor ukrainischen Denkmälern Blumen nieder. Sie bitten voller Scham um Vergebung für die in ihrem Namen begangenen Verbrechen.
Dieser komplexen Realität werden die Verfasser:innen der Manifeste für den Frieden und der grossen Essays für Verhandlungen im Westen nicht gerecht. Wer sehnt sich schon nicht danach, dass die Waffen bald schweigen. Ihre Argumentation aber verkommt zur gefährlichen Vereinfachung, die keinen Raum für Graustufen lässt. Sie übersieht, dass bereits verhandelt wird, etwa über den Austausch von Gefangenen oder die Ausfuhr von Getreide. Dass ein Friedensvertrag derzeit den Namen nicht verdient hätte, weil er den Status quo bloss einfrieren würde – es aber keine Anzeichen dafür gibt, dass Putin von seinem Ziel abgerückt ist, die Ukraine zu vernichten. Die in den befreiten Gebieten dokumentierten Gräuel weisen darauf hin, was jenen droht, die unter russischer Besetzung leben müssen.
Aus sicherer Entfernung betrachten die Simplizist:innen das Sterben in einem Land, das für sie bloss Spielball der Grossmächte bleibt. Doch wer nur geopolitische Blöcke sieht, verliert die Menschen aus dem Blick. Deshalb bleibt auch nach diesem Jahr der Verheerungen eines entscheidend: die Solidarität mit den Ukrainer:innen, den russischen Kriegsgegner:innen und jenen, die sich in Belarus gegen das Regime wehren. Auch das mag pathetisch klingen. Doch eine Linke, die den Kampf um Freiheit, Würde und Menschenrechte nicht unterstützt, hat diesen Namen nicht verdient.