Umweltverschmutzung: Angekündigte Katastrophe

Nr. 34 –

Warum sterben in Polen tonnenweise Fische? Eine Fahrt entlang der Oder auf der Suche nach Antworten.

Der erste Halt: Kedzierzyn-Kozle im südpolnischen Oberschlesien. Hier, auf Höhe der Stadt, im Gliwicki-Kanal, einem grösseren Oderzufluss, sind sie zuerst entdeckt worden: die toten Fische. Bereits Anfang Juli. Zwei Wochen später tauchten dann hundert Kilometer nordwestlich bei der Stadt Olawa tonnenweise Fischkadaver in der Oder auf. Gibt es einen Zusammenhang?

Die lokale Wasserbehörde von Kedzierzyn-Kozle wies zwar nach einer Analyse der Wasserproben eine Verbindung der toten Fische im Kanal zum Fischsterben in der Oder zurück. Doch das Wasser ist bereits hier schmutzig – und es stinkt. Auch wenn kein toter Fisch zu sehen ist: «Jeder in der Stadt weiss, was da alles an Dreck in den Fluss fliesst», sagt eine Anwohnerin, die einige Jahre auf einer Oderfähre gearbeitet hat. Einmal sei sie dabei ins Wasser gefallen. «Ich habe keinen Schaden davongetragen», erzählt sie. «Aber zu empfehlen ist das nicht.»

Derzeit ist es in Polen nicht nur nicht empfehlenswert, in die Oder zu steigen, sondern auch amtlich verboten. Der 866 Kilometer lange Fluss, der in Tschechien entspringt, später entlang der polnisch-deutschen Grenze fliesst und schliesslich in die Ostsee mündet, erlebt zurzeit eine Tragödie.

Versagende Meldeketten

Ende Juli hatten die polnischen Behörden erste Hinweise von Angler:innen erhalten, dass bei Olawa vermehrt Fischkadaver auf dem Wasser trieben. Die regionale Abteilung des Hauptumweltinspektorats hatte kurz danach Untersuchungen eingeleitet. Doch die Meldeketten versagten, Informationen versiegten oder wurden verschlampt. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagt, er habe erst am 10. August vom Problem erfahren. Die deutschen Behörden wurden erst zwei Tage später offiziell benachrichtigt. Inzwischen wurden allein in Polen mehr als 150 Tonnen tote Fische geborgen. Die Behörden belüften mittlerweile an vielen Stellen die Oder, denn auf dem Grund liegende Kadaver entziehen beim Zerfallsprozess dem Wasser Sauerstoff – was zu weiterem Fischsterben führt.

Was aber hat das grosse Fischsterben ausgelöst? Nachdem Behörden und Wissenschaftler:innen länger im Dunklen tappten – zunächst wurden etwa erhöhte Quecksilberwerte vermutet –, scheint inzwischen klar: Hauptauslöser dürften sogenannte Goldalgen sein. Deutsche und polnische Laboruntersuchungen identifizierten die Algenart Prymnesium parvum, die eine für Fische giftige Substanz produziert. Das Besondere: Diese Algenart kommt eigentlich nur in Salzgewässern oder Brackwasser, also Gewässern mit deutlich höherem Salzgehalt als Süsswasser, vor.

In der Tat wurden in den letzten Wochen in der Oder stark erhöhte Salz- und PH-Werte gemessen. Diese steigen an, wenn der Wasserstand niedrig und damit der Wasseraustausch gering ist – und zudem hohe Mengen an Salzlösungen eingeleitet werden. Dass Letzteres geschieht, ist ein Fakt: Zusätzlich zu den offiziell bekannten Einleitungen von Industrie und Kommunen entdeckten polnische Kontrolleur:innen zuletzt fast 300 Stellen, an denen illegal Abwasser in die Oder und ihre Zuflüsse geleitet wird.

Toxische Substanzen

Die Oder, die auf dem Grossteil ihres Verlaufs schiffbar ist, ist zweifelsfrei ein überlasteter Fluss. An ihren Ufern liegen zahlreiche Industriebetriebe, darunter etwa ein Stickstoffhersteller und eines der grössten Kohlekraftwerke Polens, das sein Abwasser ebenfalls in die Oder leitet.

Der nächste Halt: Olawa, eine Stadt mit 30 000 Einwohner:innen. Hier wurde am 4. August von der lokalen Umweltbehörde «mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit» die toxische Substanz Mesitylen in der Oder festgestellt. Wenige Tage später gab es wiederum Entwarnung: offenbar doch kein Mesitylen. Ob das nun stimmt oder ob es vor allem stimmen soll, ist unklar. Über Richtigkeit und Glaubwürdigkeit der Messungen wird seither spekuliert. Mesitylen ist eine toxische Verbindung, die in Steinkohlenteer vorkommt, der bei der Verbrennung von Kokskohle entsteht. Die grösste Kokerei Polens liegt in der Nähe von Kedzierzyn-Kozle. Ebenfalls an der Oder.

In Olawa, dort, wo die Oder am tiefsten in die Stadt hinein-mäandert, liegt die Rybackastrasse – die Fischereistrasse. Angler:innen sieht man hier dieser Tage keine. Und Stanislaw Kadziolka, der lokale Vorsitzende des polnischen Anglerverbands, mag nicht mehr mit Medien sprechen. Er und seine Anglerfreunde hatten zu Beginn der aktuellen Krise eine wichtige Rolle gespielt: Sie waren die Ersten gewesen, die Fischkadaver gemeldet hatten  – und später selbst entsorgten. Jetzt, gut drei Wochen später, habe er keine Zeit für Gespräche, aber für eine kurze Prognose reicht sie dann doch: «Die Oder wird seit Jahren systematisch verschmutzt», sagt Kadziolka knapp. «Es war nur eine Frage der Zeit, bis die dünne rote Linie überschritten würde.»

Auch Olawas Bürgermeister, Tomasz Frischmann, äusserte sich frustriert: «Wir haben als Erste reagiert, und dann wurde die Stadt zum Bauernopfer.» Anfang August war zunächst die Papierfabrik Jack-Pol in Olawa als Verursacherin des Fischsterbens ausgemacht worden. Inzwischen sind die Vorwürfe aber relativiert worden. Expert:innen dies- und jenseits der Oder gehen von multiplen Ursachen und Verursacher:innen aus. So sollen auch staatliche Betriebe mitverantwortlich sein, darunter etwa der grosse polnische Kupferkonzern KGHM aus Glogow an der Oder.

Es sind wohl auch diese kursierenden Namen und Gerüchte, die die Regierung dazu verleiten, medial in die Offensive zu gehen – und auch in Richtung Deutschland auszuteilen. So sprach Umweltministerin Anna Moskwa von «Fake News», die etwa in Deutschland verbreitet würden; und das staatliche Fernsehen TVP streut Informationen, wonach Deutschland den wirtschaftlichen Aufstieg Polens bremsen wolle – und daher die von Warschau geplante weitere Regulierung der Oder diskreditiere.

Inkompetente Behörden

Mit der Flucht in die Attacke kaschiert das Lager der rechtskonservativen Regierungspartei PiS indes vor allem eigenes Versagen. Denn in den vergangenen Jahren wurden wichtige Posten in staatlichen Institutionen mit Personen besetzt, für die das Auswahlkriterium in der Regel nicht Kompetenz, sondern Loyalität gegenüber der Partei war und ist. Dazu beigetragen hat zudem der teils chaotische Um- oder Neuaufbau vieler Behörden. So wurde 2019 unter anderem das Hauptumweltinspektorat zentralisiert, das in sieben Jahren fünf Chefs kommen und gehen sah. Hinzu kommt: Für die PiS waren und sind Fragen von Umwelt und Klima stets Kinderkram. In den vergangenen Jahren konnten nur Proteste aus der Bevölkerung oder die EU die Regierung zu Massnahmen zwingen.

Viele scheinen das Thema nach wie vor zu verdrängen. «Bei uns ist das kein Problem», sagt eine ältere Frau, die sich in Olawa aus dem Fenster lehnt. Ihr Haus steht direkt an der Oder, fünfzig Meter von einem kleinen, von der EU mitfinanzierten Abwasserpumpwerk entfernt. In der Luft liegt ein dezent beissender Geruch. «Das Wasser ist sauber», sagt sie. «Vielleicht müssen Sie flussab- oder -aufwärts schauen.» Um einen Gedanken kommt man bei der Fahrt der Oder entlang nicht herum: Der Fluss muss schon lange auf einen Kipppunkt zugeflossen sein. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis es zur Katastrophe kommen würde.