Krise, Initiative!: Mut zum Ausbau

Nr. 44 –

Statt Boni-Empörung und Beruhigungstabletten: Jetzt handeln! Mit einem deutlichen Ja zur AHV-Initiative am 30. November.


Ein matter Schein des Historischen umgibt das Büchlein, das die Bibliothekarin über den Tresen schiebt. Es trägt den Titel «Mut zum Aufbruch. Eine wirtschaftspolitische Agenda für die Schweiz». 1995 erschienen, ist es so etwas wie Plan und Fibel des Schweizer Neoliberalismus zugleich. Joe Ackermann, Ulrich Bremi, David de Pury, Thomas Schmidheiny - wer damals Rang und Namen hatte in der Schweizer Wirtschaft, unterzeichnete dieses Weissbuch.

Welch hochtrabende Lektüre in tiefer Krise! Vollständige Privatisierung der Post, Marktöffnung und Privatisierung im Energiebereich, Deregulierung der akademischen Ausbildung - das waren und sind weiterhin die Forderungen. Zu den Sozialversicherungen heisst es: «Ein finanzieller Kollaps der AHV aufgrund des Wandels der Altersstruktur der Bevölkerung rückt in bedenkliche Nähe. Wenn eine unerträgliche, volkswirtschaftlich ruinöse Belastung der Arbeit mit Sozialabgaben vermieden werden soll, ist eine weitergehende Abkehr vom Umlageverfahren dringend geboten.»

Historisch sind diese Forderungen spätestens, seit der Staat vor zwei Wochen die UBS mit 68 Milliarden stützen musste. Auf den Strassen empören wir uns derzeit über Boni, und die Regierung verteilt weiter Beruhigungstabletten: Vertrauen! Vertrauen! Wir hingegen können eine direkte Verbindung von unserem Zorn und unserer Angst zu konkreten politischen Anliegen herstellen: Mit einem Ja zur Initiative für ein flexibles Rentenalter am 30. November!

Die Demografielüge

Die Initiative fordert, dass sich ab dem Alter von 62 Jahren pensionieren lassen kann, wer will. Ohne eine Kürzung der AHV-Rente. Man kann aber auch weiterarbeiten - und wird damit weitere Jahre einen Lohn statt einer Rente verdienen.

Laut einer letzten Freitag publizierten SRG-Umfrage wollen 52 Prozent für die Frühpensionierung stimmen. 18 Prozent sind noch unentschlossen. Die häufigste Frage der Unentschlossenen: Ist das Anliegen zu finanzieren? Müssen nicht schon jetzt immer weniger Erwerbstätige für immer mehr RentnerInnen aufkommen? Offensichtlich hat die Behauptung der Schweizer Neoliberalen von der «bedenklichen Nähe» eines «finanziellen Kollapses» der AHV ihre Wirkung nicht verfehlt.

Bloss: Sie stimmt nicht. Wohl kamen Mitte der Siebziger auf einen Rentner 3,5 Erwerbstätige, während es heute auf eine Rentnerin noch 2,5 Erwerbstätige sind. Trotzdem schreibt die AHV schwarze Zahlen. Selbst in diesem Krisenjahr wird die Gesamtrechnung auf eine schwarze Null hinauslaufen. Woran das liegt? Zum einen an den Produktivitätsfortschritten. Sie müssen zu höheren Löhnen und damit zu höheren AHV-Beiträgen führen. Und zum anderen an der Einwanderung.

Will man die AHV in der heutigen Form sichern, so sind bis 2030 rund 1,1 zusätzliche Lohnprozente nötig. Die Frühpensionierung würde lediglich 0,3 Beitragsprozente mehr kosten. Von wegen «Kollaps» - sogar ein Ausbau ist finanzierbar.

Stabile Umlage

Weiter ist die AHV-Initiative gerade keine Abkehr vom Umlageverfahren, die den Schweizer Neoliberalen so «dringend geboten» schien. Im Gegenteil: Sie steigert die Attraktivität der ersten Säule. Umlageverfahren heisst: Das Geld der Jüngeren geht direkt zu den Älteren. Nur der AHV-Ausgleichsfonds legt zur Sicherheit Kapital an. Die zweite Säule funktioniert im Kapitaldeckungsverfahren: Später erhalten wir das Geld, das wir heute einzahlen. Verzinst durch die Pensionskassen, welche das immense Kapital anlegen.

Die Meldungen häufen sich, dass die Pensionskassen zu den nächsten Opfern der Finanzkrise gehören: Von Buchverlusten von 60, 70, 80 Milliarden Franken ist die Rede. In der Krise erweist sich das Umlageverfahren als weitaus stabiler als das Kapitaldeckungsverfahren.

Und wenn tatsächlich zu viel Geld zur Krise geführt hat: Sind dann die Pensionskassen mit ihrem zwangsersparten Kapital gar nicht nur Opfer der Finanzkrise, sondern Mittäter? Immerhin müssen allein in der Schweiz 600 Pensionskassenmilliarden angelegt werden. Die Meinungen der ExpertInnen über diese Frage gehen auseinander: Die einen verneinen jede Mittäterschaft: «Nein, nein, Pensionskassen investieren vorsichtig und langfristig!» Die anderen sagen: «Pensionskassen sind wie Tanker: Sie bieten Rückendeckung für die wendigen Kreuzer und ihre schnelle Rendite.»

Als sich Gerhard Schwarz, Wirtschaftschef der NZZ und Mitunterzeichner des erwähnten Weissbuchs, kürzlich des ganzen Schlamassels bewusst wurde, schrieb er in einem Leitartikel: «Wer glaubte, dank des Kapitaldeckungsverfahrens, der zweiten Säule, sei in der Schweiz die Wahrung des Lebensstandards bis ins hohe Alter geradezu in Stein gemeisselt, muss nun zur Kenntnis nehmen, dass im Leben, also auch im wirtschaftlichen Leben, bestenfalls Wahrscheinlichkeiten herrschen, aber keine Gewissheiten.»

Gewisser als wahrscheinlich ist: Das Weissbuch kann zugeklappt werden. Auch der Schweizer Neoliberalismus hat sich lediglich als üble Behauptung erwiesen. Die Gegenerzählung könnte mit der AHV-Initiative beginnen.