Barrierefreies Programmieren: «Machen alle ihren Job, ist es keine Hexerei»
Warum sind so viele Websites voll mit Hindernissen? Entwickler Josua Muheim erklärt, wie sich das ändern liesse – und worauf man achten muss.
WOZ: Herr Muheim, ist es technisch schwierig, eine Website so zu gestalten, dass sie auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich ist?
Josua Muheim: Eigentlich nicht. Die Entwickler:innen, die das umsetzen müssen, nehmen das Thema Barrierefreiheit oft negativ wahr. Häufig hält ganz am Schluss, nachdem die neue Website schon fast fertig programmiert ist, noch jemand das Fähnchen hoch und sagt: «Jetzt muss das aber auch noch barrierefrei sein.» Das ist viel zu spät, und die Entwickler:innen denken: Oh nein, noch etwas, das wir liefern müssen. Zu diesem späten Zeitpunkt ist es aufwendig und führt nie mehr zu optimalen Lösungen. Das löst Frust aus, was sehr schade ist.
Wie liesse sich das vermeiden?
Das Grundproblem ist: Barrierefreiheit ist nicht in die Ausbildung der Programmierer:innen integriert. Das müsste fester Bestandteil der Lehrpläne sein. Bis jetzt ist das Thema noch zu oft von einzelnen Personen abhängig, die sich aus privatem Interesse darum kümmern. Viele glauben immer noch, Barrierefreiheit sei etwas Separates. Dem ist aber nicht so.
«Manchmal muss ich mir auf die Zunge beissen, wenn das nicht mal gestandene Entwickler:innen hinkriegen.»
Wie meinen Sie das?
In HTML – der Grundsprache der Webprogrammierung – ist die Barrierefreiheit grösstenteils bereits integriert. Die Entwickler:innen müssten nur diese Sprache, die sie täglich nutzen, korrekt anwenden. Die meisten denken jedoch: Hauptsache, die Website sieht am Schluss gut aus – völlig egal, was im Hintergrund passiert. Solange Menschen gut sehen und keine motorischen Probleme haben, ist das tatsächlich egal, weil sie die Website genau so bedienen wie von den Programmierenden vorgesehen. Für Blinde, die den Screenreader nutzen, sieht das anders aus. Das Vorleseprogramm muss die Seite korrekt interpretieren können. Deshalb ist es wichtig, dass die Informationsstruktur im Hintergrund korrekt ist, sonst kann das Programm sie nicht vorlesen. Wenn Entwickler:innen es nun mühsam finden, dass sie auch noch auf die Barrierefreiheit zu achten haben, muss man ihnen sagen: «Es liegt eigentlich an euch. Wenn ihr euren Job von Anfang an richtig macht und die Tools richtig einsetzt, gibt es keinen Mehraufwand.» Nur müsste das eben schon in der Ausbildung gelehrt werden.
Wie geht man es richtig an?
Es ist wie beim Bau eines Hauses. Man plant zuerst, wo die Zimmer, die Küche oder die Strom- und die Wasserleitungen hinkommen. Erst wenn der Rohbau fertig ist, kann die Innendekoration beginnen. Die Wände werden bemalt, die Küche ausgestattet und alles hübsch eingerichtet. An der Grundstruktur und der Logik des Hauses ändert sich dann nichts mehr. Genau so ist es bei einer gut gemachten Website: Sie wird ohne Schnickschnack, rein auf der Informations- und der Funktionalitätsebene, entwickelt. Die schöne optische Gestaltung kommt erst am Schluss.
Und Blinde finden sich danach zurecht?
Man muss zum Beispiel die virtuellen Räume und Objekte darin richtig anschreiben. Der Screenreader liest die Beschriftung vor, und so können sich Blinde auf der Seite orientieren. Das funktioniert aber nur, wenn die Beschriftungen Sinn ergeben. Oft verwenden die Programmierer:innen Fantasienamen, womit die Orientierung dahin ist.
Das verstehe ich nicht.
Stellen Sie sich vor, Sie sind blind und kommen in ein fremdes Haus. Sie suchen das Klo. Nun müssen Sie jede Türe öffnen und jeden einzelnen Raum abtasten, um herauszufinden, wo Sie sind. Vielleicht gehen Sie in die Küche, eine Herdplatte ist heiss, sie verbrennen sich die Finger. Wären aber das ganze Haus und jede Tür korrekt angeschrieben, würde Ihnen das nicht passieren. Genau so ist es auf der Website. Wird jedes Bild, jeder Link von Anfang an korrekt beschriftet, funktioniert die Orientierung. Das macht nicht mehr Arbeit und ist keine Hexerei. Beim barrierefreien Bauen ist es ähnlich: Wird ein Lift von Anfang an eingeplant, ist das nicht aufwendig – muss man ihn nachher reinzimmern, kann es ganz schön kompliziert und teuer werden.
Warum ist es überhaupt wichtig, dass jede Website auch über die Tastatur zu bedienen ist?
Ein Tetraplegiker, der die Arme nicht bewegen kann, eine Person mit Parkinson, die zittert, oder eine Person, die den Arm gebrochen hat, ist nicht in der Lage, eine Maus zu bedienen. Sie können eine Website oder eine App aber über die Tastatur bedienen.
Gibt es viele Websites, die nur über die Maus bedienbar sind?
Ja, probieren Sie es aus. Anstatt dass Programmierer:innen zum Beispiel in einem Formular einen klassischen Button benutzen, setzen sie willkürlich ein anderes Element ein, das dann nur über die Maus angesteuert werden kann. Danach klagen sie, ihre Website sei nicht barrierefrei. Wenn man nachher genau hinschaut und den Fehler sucht, muss man ihnen sagen: «Ihr wendet einfach die Grundschule von HTML in eurem Alltag nicht richtig an, sonst würde das nicht passieren.» Manchmal muss ich mir auf die Zunge beissen, wenn das nicht mal gestandene Webentwickler:innen hinkriegen, die, notabene, ziemlich gut verdienen.
Und wie findet man raus, ob eine Website das kann?
Ganz einfach: Man bewegt mit der Tabulatortaste auf einer Website den sogenannten Fokus von Element zu Element. Via Tastatur, zum Beispiel mit der Pfeil- oder der Entertaste, muss sich dann auch das Menü aufklappen und eine Wahl tätigen lassen. Jedes interaktive Element muss mit der Tastatur alleine bedienbar sein.
Ist das nicht enorm mühselig, wenn man das so nutzt?
Das mag sein. Doch wenn sich eine Website mit der Tastatur bedienen lässt, funktioniert dies auch mit jeder anderen Spezialeinrichtung. Ein Mensch, der komplett gelähmt ist, hat zum Beispiel eine Mundmaus, die er mit der Zunge bedienen kann. Die Tastatur ist die Schnittstelle, darüber funktionieren alle diese speziellen Geräte. Selbst eine Person, die nur noch mit den Augen zwinkern kann, kann so den Computer bedienen. Vielleicht muss sie sehr oft mit den Augen zwinkern, um ein E-Mail zu schreiben oder etwas online zu bestellen – aber es ist möglich. Damit steht ihr die ganze Welt offen. Das war vor zehn, zwanzig Jahren noch komplett undenkbar. Eine Person, die zuvor Sozialhilfe beanspruchen musste, kann damit einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Es geht hier nicht um den Ausbau des Wohlfahrtsstaats, sondern um die Selbstermächtigung eines ganzen Teils unserer Gesellschaft.
Josua Muheim
Der 38-jährige Josua Muheim arbeitet als Webentwickler bei der Firma Nothing, die auf barrierefreie Websites spezialisiert ist. Vorher war er während sieben Jahren als Berater und Entwickler bei der Stiftung «Access for all – Zugang für alle» tätig. Muheim hat auch die WOZ bei der Neugestaltung ihrer Website beraten.