Hindunationalismus: Modis totalitäres Indien

Nr. 35 –

Hassreden, Gewaltausbrüche und diskriminierende Gesetze: Unter Premierminister Narendra Modi lebt die muslimische Minderheit in einem Klima der Angst. Einige Beobachter:innen warnen gar vor einem Genozid.

Nationalistische Hindus bei einem Protestmarsch gegen die angebliche Ermordung einer ehemaligen BJP-Sprecherin durch zwei Muslime
Der Hass wächst: Nationalistische Hindus bei einem Protestmarsch gegen die angebliche Ermordung einer ehemaligen BJP-Sprecherin durch zwei Muslime.   Foto: Prakash Singh, Keystone

Als im April dieses Jahres der muslimische Fastenmonat Ramadan mit Festen zu Ehren der hinduistischen Gottheiten Hanuman und Ram zusammenfiel, kam es in mehreren indischen Bundesstaaten zu Zusammenstössen zwischen Hindunationa­list:in­nen und Mus­lim:in­nen. Medienberichten ist zu entnehmen, dass die Gewalt jeweils einem ähnlichen Muster folgte: Scharen von Männern mit den für hindunationalistische Gruppierungen typischen safranfarbenen Schals und oft bewaffnet mit Pistolen, Schlagstöcken und Schwertern, zogen in religiösen Prozessionen durch muslimische oder gemischtkonfessionelle Viertel, hielten vor Moscheen an, schmetterten laute nationalistische Musik aus Lautsprechern und provozierten die Betenden mit beleidigenden Parolen. Irgendwann flog der erste Stein, brutale Strassenschlachten brachen aus, Läden wurden geplündert, Moscheen niedergebrannt. Hunderte wurden im Verlauf jenes Monats verletzt, mehrere Menschen kamen gewaltsam ums Leben.

Zwar ist die gesamte 75-jährige Geschichte Indiens von wiederkehrender kommunaler Gewalt geprägt, die teilweise auf die Aufspaltung der einstigen britischen Kron­kolonie im Jahr 1947 zurückgeht. Aber die konfessionelle Polarisierung und die Politisierung der Religion hätten sich zuletzt verstärkt, sagt Neera Chandhoke, ehemalige Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Delhi, die mehrere Bücher zu politischer Gewalt und Minderheitsrechten in Indien veröffentlicht hat. Sie erklärt diese Entwicklung mit dem Erstarken rechtsextremer Parteien seit den neunziger Jahren und vor allem mit der Politik der aktuellen hindunationalistischen Regierung von Narendra Modi. «Heute herrscht ein Klima der Angst, des Misstrauens und der Vorurteile», sagt Chandhoke. «Muslim:innen werden immer mehr als ‹Eindringlinge› wahrgenommen.»

Aktiv geförderte Hassreden

Angst, Misstrauen und Gewalt sind auch die Folge virulenter Hassreden. Rechts­extre­mist:in­nen rufen mitunter dazu auf, Muslime zu töten oder muslimische Frauen zu vergewaltigen. Auf Social Media erreichen ihre Botschaften Millionen Menschen. An einem Event im Dezember 2021 in Haridwar, einer Stadt im Gliedstaat Uttarakhand in Nord­indien, riefen mehrere Sprecher:innen zur Vernichtung von Muslim:innen auf. Puja Shakun Pandey, eine Führerin der militanten hindunationalistischen Organisation Hindu Mahasabha, sagte dort: «Selbst wenn nur hundert von uns bereit sind, zwei Millionen von ihnen zu töten, dann werden wir gewinnen.» Auch Mitglieder der Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei), der Partei von Premierminister Narendra Modi, waren an der Konferenz anwesend.

In vielen Staaten hat die BJP Gesetze erlassen, die interreligiöse Heiraten einschränken.

«Die Modi-Regierung hat nicht nur ein günstiges Umfeld für Hassreden geschaffen, sondern fördert sie aktiv», sagt Harsh Mander, langjähriger Menschenrechtsaktivist und Gründer des Zentrums für Gleichstellungsstudien in der Hauptstadt Delhi. «Po­li­tiker:in­nen, die Hassreden verbreiten, werden mit politischen Positionen belohnt», so Mander. Die Regierung porträtiere Mus­lim:in­nen als inneren Feind – und Modi als denjenigen, der es mit diesem Feind aufnehmen könne.

Zu Beginn dieses Jahres sprach Genocide Watch, eine internationale Organisation mit Sitz in Washington D. C., eine eindringliche Warnung aus: In Indien drohe faktisch ein Völkermord an der muslimischen Minderheit, die vierzehn Prozent der 1,4 Milliarden In­der:in­nen ausmacht. Der Gründer der Organisation, der Rechtsprofessor, Anthropologe und Genozidforscher Gregory Stanton, hat dadurch Berühmtheit erlangt, dass er bereits 1989 den Genozid in Ruanda vorhersagte, der 1994 mit der Ermordung von 800­ ­000 Menschen Tatsache werden sollte. Um Völkerrechtsverbrechen vorherzusagen und zu verhindern, entwickelte Stanton ein Zehnstufensystem, das verschiedene Prozesse erklärt, die zu einem Genozid führen. Diese erfolgen nicht linear, sondern treten oft gleichzeitig auf und überlagern sich. Die Logik lässt sich am Bild einer russischen Matroschkapuppe erklären: Im Zentrum steht Stufe eins, die «Klassifizierung», also eine gesellschaftliche Unterteilung zwischen «wir» und «sie». Auf Stufe zehn, gewissermassen als umhüllende Schicht aller Prozesse, steht die Leugnung verübter Verbrechen.

«Indien hat heute mit seiner Politik gegen Mus­lim:in­nen neun der zehn Stufen erreicht», sagt Gregory Stanton im Telefongespräch mit der WOZ, so auch die Prozesse «Polarisierung», «Vorbereitung», «Verfolgung» und «Leugnung». Einzig die Stufe neun, «Vernichtung», sei noch nicht eingetreten. «Wir sagen nicht, dass ein Völkermord bereits im Gang ist oder dass wir Beweise haben, dass es einen Plan zur Ausrottung von Mus­lim:in­nen gibt», sagt Stanton. Doch die Ausgrenzung von Mus­lim:in­nen, ihre systematische Diskriminierung und vor allem Entmenschlichung seien extrem besorgniserregend. Stanton erkennt Parallelen zur Verfolgung der Rohingya im Nachbarland Myanmar, denen bereits 1982 die Staatsbürgerschaft verweigert wurde und die daraufhin während Jahrzehnten diskriminiert und dehumanisiert wurden. Ihre Verfolgung mündete 2017 im Genozid, 800 000 Menschen wurden in die Flucht getrieben. Tatsächlich beschwor ein Sprecher an der erwähnten Hinduveranstaltung letztes Jahr in Haridwar das Vorgehen gegen die Rohingya-Mus­lim:in­nen als Modell dafür, was getan werden könne, um Mus­lim:in­nen aus Indien zu vertreiben.

Narendra Modi wurde 2014 zum ersten Mal zum Premierminister gewählt und 2019 für eine zweite Amtszeit bestätigt. Seit seiner Kindheit gehört er der radikalhinduistischen paramilitärischen Gruppierung Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, Nationale Frei­willigenunion) an, die 1925 gegründet wurde und von Adolf Hitlers Theorie der «Rassenreinheit» inspiriert ist. Die RSS, die heute sechs Millionen Mitglieder zählt, ist eng mit der Regierungspartei BJP verflochte­n, die faktisch ihren politischen Arm darstellt. Modi ist Verfechter der Hindutva-Ideologie, eines politischen Konzepts, das die Errichtung einer autoritären Hindunation vorsieht – also ein Land und Rechte ausschliesslich für Hindu­s.

Es droht Staatenlosigkeit

Vor allem seit Beginn seiner zweiten Amtszeit verfolgt der Premierminister eine spalterische Politik, in deren Zentrum die Islamophobie steht. Aber bereits 2002, als er noch Ministerpräsident des Bundesstaats Gujarat war, kam es dort zu einem gross angelegten Pogrom, bei dem Mitglieder der BJP und ihr nahestehender Gruppen mehr als tausend Menschen töteten, die meisten davon Mus­lim:in­nen. Menschenrechtsorganisationen und Journalist:innen warfen Narendra Modi und seiner Landes­regierung vor, die Polizei angewiesen zu haben, der Gewalt tatenlos zuzusehen; sämtliche Anklagen gegen Modi wurden seither aber fallen gelassen. «Gujarat hat das Tempo für die heutigen Entwicklungen vorgegeben», sagt dazu die Politologin und Buchautorin Neera Chandhoke.

Mittlerweile hat die BJP in zahlreichen von ihr dominierten Bundesstaaten Gesetze erlassen, die etwa das Schlachten von Kühen kriminalisieren oder interreligiöse Heiraten einschränken. Letzteres zielt auf den sogenannten «Liebesdschihad» ab, eine Verschwörungstheorie, wonach muslimische Männer Hindufrauen in Liebesbeziehungen lockten und sie dann überzeugten, zum Islam zu konvertieren. Ende 2019 passte das indische Parlament zudem das Staatsbürgerschaftsgesetz an: Es ermöglicht nun Angehörigen religiöser Minderheiten aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan, die sich vor 2014 in Indien niederliessen, die indische Staatsbürgerschaft im Schnellverfahren anzunehmen. Menschen muslimischen Glaubens wird dieses Recht allerdings nicht gewährt. Es ist das erste Mal, dass religiöse Kriterien als Grundlage für die indische Staatsbürgerschaft gelten.

Das Gesetz ist verbunden mit einem geplanten landesweiten Überprüfungsverfahren zur Identifizierung «illegaler Ein­wan­der:in­nen», die nach 1971 in Indien angekommen sind. Damit zielt es vor allem auf Mus­lim:in­nen und ihre Nachfahren, die 1971 während des Befreiungskriegs im benachbarten Bang­ladesch nach Indien flohen und keine indische Staatsbürgerschaft nachweisen können. Millionen von Mus­lim:in­nen drohen damit Ausweisung oder Staatenlosigkeit. BJP-Innenminister Amit Shah bezeichnete die betroffene muslimische Bevölkerung als «Termiten», die es «rauszuwerfen» gelte. Die Gesetzesänderung hatte monatelange Massenproteste zur Folge, bei denen die De­monstrant:in­nen von der Polizei und bewaffneten Gruppen heftig angriffen wurden; ungefähr fünfzig Personen wurden getötet, Hunderte verletzt. Die Gewalt­täter:in­nen wurden nicht strafrechtlich verfolgt.

Ebenfalls 2019 hob die Modi-Regierung den seit über siebzig Jahren geltenden Autonomiestatus des Bundesstaats Jammu und Kaschmir auf. Während der Premierminister behauptet, dadurch zur Entwicklung der Region beizutragen, sagen Kri­ti­ker:in­nen, dass die Regierung darauf abziele, die dortige muslimische Mehrheit zur Minderheit zu machen, indem im Bundesstaat neu auch Nichtkaschmiris Land kaufen können. Proteste gegen die Aufhebung wurden wiederum gewaltsam nieder­geschlagen.

Schrumpfende Räume

Ein Ende Juni 2022 veröffentlichter, 465 Seiten langer Bericht eines Gremiums von unabhängigen internationalen Völ­ker­rechts­expert:in­nen bestätigt die drastische Warnung von Genocide Watch. Die Existenz der muslimischen Minderheit in Indien sei «ernsthaft bedroht», warnen die Ex­pert:in­nen mit Blick auf die Entwicklungen seit 2019. Im Bericht untersucht werden unter anderem die Niederschlagung von Protesten, das repressive Vorgehen gegen Menschen­recht­saktivist:in­nen wie auch die Folter von Zi­vi­list:in­nen. Die Ex­pert:in­nen kommen zum Schluss, dass manche Vorfälle möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen – und andere als Anstiftung zum Völkermord zu werten sein könnten.

Noch gibt es in Indien Politikerinnen, Aktivisten, Journalist:innen und engagierte Bürger:innen, die sich gegen Modis Politik stellen. Doch der Raum für Kritik schrumpft. Die Pressefreiheit befinde sich in einer Krise, schreibt die Organisation Reporter ohne Grenzen. Kritische Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen würden von der Regierung und deren Anhänger:innen schikaniert, bedroht, verfolgt, wegen Volksverhetzung angezeigt und verhaftet. Viele sind auf Social Media Hasskampagnen und Morddrohungen ausgesetzt. «Es ist wie ein Schwert, das ständig über deinem Kopf hängt», beschreibt der Menschenrechtsaktivist Harsh Mander die Situation. Und auch die Unabhängigkeit von Institutionen wie dem Gerichtswesen, die den Einzelnen vor dem Staat schützen sollten, werde zunehmend unterwandert, sagt Neera Chandhoke. «Es gibt in Indien keinen Rechtsstaat mehr», so die Politologin.