Rostock-Lichtenhagen: «Rassistische Gewalt wurde zum Argument»

Nr. 35 –

Vor dreissig Jahren setzte in Rostock ein Mob ein Haus voller Migrant:innen in Brand. Historiker Patrice Poutrus über das Gedenken daran als Verdrängungsversuch.

WOZ: Herr Poutrus, Sie haben verfolgen können, wie aus dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ein Gedenkereignis wurde. Wie war die zurückliegende Woche für Sie?

Patrice Poutrus: Ich war darauf zwar ­einigermassen vorbereitet, trotzdem haben mich diese Tage des Erinnerns stark mit­genommen. Nach einer Podiumsdiskussion zu dem Pogrom habe ich einige Stunden gebraucht, um mich wieder zu beruhigen. Das hatte vor allem damit zu tun, dass wir über weiterhin ungelöste Konflikte in der deutschen Gesellschaft gesprochen haben.

Was meinen Sie damit?

Die Entwicklungen von 1992 und 1993 waren ein Angebot an weite Teile der deutschen Gesellschaft für innere Einheit – jenseits von Menschenwürde und Verpflichtung zu humanitärer Hilfe. Der imaginierten Abstammungsgemeinschaft der weissen Deutschen wurde ein elementarer Vorrang eingeräumt. Für Leute wie mich – Black and People of Color und Mi­grant:in­nen – wurde klar, dass man in diesem Land strukturell gefährdet ist, was sich in Ereignissen wie dem Pogrom und der daraus folgenden Schleifung des Asylrechts zeigte. Diese Zeit hat meine Haltung zur Bundesrepublik, genauer gesagt zur Berliner Republik, entscheidend definiert. Interessanterweise wurde nun der Zusammenhang zwischen rassistischer Gewalt und Verfassungsänderung in den Medien nur partiell thematisiert. Ich habe den Eindruck, dass um den Jahrestag herum versucht wurde, einen bedingungslosen Versöhnungsprozess einzuleiten – und das finde ich hochgradig problematisch.

Zum Jahrestag ist auch der Bundespräsident nach Rostock gereist, um mit Überlebenden zu gedenken: Ist das eine positive Entwicklung – eine Anerkennung des Erlittenen – oder die staatliche Aneignung von Gedenken, wo doch Staat und Politik Teil des Problems in Lichtenhagen waren?

Jede Art von Gedenken ist eine Form von Aneignung, alle Würdigung im öffentlichen Raum verfolgt Absichten, es geht nie um die Vergangenheit pur. Das an sich betrachte ich noch nicht als Problem. Die Fragen, die diskutiert werden müssten, sind: Warum wird das Gedenken angeeignet? Was für Intentionen sind damit verbunden? Da genügt es nicht, wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich dreissig Jahre später wie in einem Stuhlkreis erzählen lässt, wie schlimm damals alles war – das ist einfach zu wenig. Für das damalige Verhalten der politisch Verantwortlichen und der staatlichen Institutionen gegenüber dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen gibt es zwei Erklärungen: Entweder war es billigende Inkaufnahme oder gezielte Herbeiführung der rassistischen Gewalt. Auch deshalb meine ich, dass bei einem Gedenken, das auf die gegenwärtigen Verhältnisse zielt, Versöhnung nicht das erste Ziel sein kann. Denn zur Versöhnung gehört ein aufrichtiges Schuldeingeständnis. Davon kann aber bis heute keine Rede sein.

Patrice Poutrus
Patrice Poutrus Foto: Marco Fechner

Ist es nicht gut, wenn jene, die Gewalt und Bedrohung erlebt haben, auch zu Wort kommen?

Es ist selbstverständlich richtig und wichtig, den Opfern von rassistischer Gewalt das Wort zu geben und ihr Leiden anzuerkennen. Wenn aber das andere nicht auch geschieht, besteht die Gefahr, dass den Opfern nur rein instrumentell ein Raum zugewiesen wird: Es soll nicht thematisiert werden, welche Konsequenzen gezogen werden müssen, um eine Wiederholung der damaligen Entwicklungen ausschliessen zu können.

Was ist «das andere», das ebenso geschehen müsse?

Um den Konsens der deutschen Selbstgenügsamkeit zu durchbrechen, muss der Zusammenhang zwischen der Schleifung des Asylrechts im Grundgesetz 1993 und der rassistischen Gewalt auf der Strasse ab 1991 hergestellt werden. In seiner Rede in Rostock hat Präsident Steinmeier die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl durch die Verfassungsänderung 1993 jedoch unerwähnt gelassen. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern fatal.

Was ist denn der Zusammenhang zwischen Lichtenhagen und der Änderung des Asylrechts?

Ab Mitte der siebziger Jahre – ich nenne es das Ende der Nachkriegszeit – gab es in der alten Bundesrepublik eine sich zuspitzende Auseinandersetzung um Migration und insbesondere um die Zukunft des liberalen Asylrechts im Grundgesetz. In diesem Konflikt hatten vor allem die damals oppositionellen Unions­parteien gelernt, welches gesellschaftliche Mobilisierungspotenzial in der sogenannten Ausländerfrage steckt und dass die regierende Sozialdemokratie damit in die Defensive getrieben werden kann. Allerdings gelang es der ab 1982 regierenden Union auch nicht, zur Frage, ob die Bundesrepublik ein Einwanderungsland sein soll oder nicht, einen parteiübergreifenden Konsens in ihrem Sinne – also verneinend – zu etablieren. In fast allen Parteien gab es dazu auch Widerspruch, und bis Ende der achtziger Jahre herrschte in der Sache eine Art gesellschaftliches Patt. In dieser Zeit gab es immer wieder Anschläge auf Unterkünfte von Asylsuchenden und Arbeitsmigrant:innen. Dies wurde jedoch als etwas gesehen, was aus­serhalb der politischen Kultur der alten Bundesrepublik stand. Nach der deutschen Einheit 1990 änderte sich dieses Arrangement. Die Regierung Kohl erkannte im Einigungsprozess die Chance, das Patt aufzulösen. Zugleich war die wieder aufgewärmte Asyl- und Ausländerfrage ein gutes Instrument, um von den Krisenerscheinungen nach der deutschen Wiedervereinigung abzulenken. Das hatte fatale Folgen, die bis in die Gegenwart wirken.

Können Sie das ausführen?

In den frühen Neunzigern wurde rassistische Gewalt zum legitimen Bestandteil der politischen Auseinandersetzung im vereinten Deutschland. Wer zum deutschen Volk gehört, wurde von rechten Schläger:innen und ihren Claqueur:innen auf der Strasse entschieden. Die Gewalt wurde als Argument in die Debatte um die Zukunft des Asylrechts eingeführt – was der Gewalt auf der Strasse zusätzliche Legitimation verlieh. Ich würde sagen, dass das, was in den Jahren 1992 und 1993 geschah, die innere Gründung der Berliner Republik war: Was geht und was nicht, wurde ausserhalb der Institutionen verhandelt, schlug bis in die Verfassungsdiskussion durch und hat die politische Kultur des Landes nachhaltig geformt.

Kann sich das wiederholen?

Vielen Politiker:innen wie auch Teilen der Öffentlichkeit gilt die Verbindung von Gewalt und politischer Auseinandersetzung nach wie vor als irgendwie legitim. Das heisst letztlich, dass so etwas immer wieder geschehen kann. Es ist dieser Zusammenhang, der mich weiterhin stark beunruhigt. Die Art des Gedenkens letzte Woche hat daran nichts ­geändert.

Patrice Poutrus (61) ist Historiker an der Universität Erfurt. 2019 erschien von ihm das Buch «Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart» (Ch.-Links-Verlag).