Sozialhilfe: Die Abwärtsspirale stoppen

Nr. 37 –

Ausländer:innen sollen nicht mehr einfach ausgewiesen werden können, weil sie Sozialhilfe benötigen. Der Nationalrat steht vor einem Richtungsentscheid.

Das Geschäft versteckt sich in der Traktandenliste unter den parlamentarischen Initia­tiven. Doch wenn es durchkommt, wäre es ein veritabler sozialpolitischer Coup in der laufenden Session. Die Rede ist von der Initia­tive «Armut ist kein Verbrechen» von Samira Marti, die nächste Woche im Nationalrat diskutiert wird. «Es müsste reichen für die Zustimmung, doch ich traue der Sache noch nicht ganz», meinte Marti diese Woche in der Wandelhalle. Tatsächlich stehen die Chancen gut: Neben SP und Grünen wollen auch die Mitte und die GLP das Anliegen unterstützen. Selbst progressive Freisinnige sind dafür. Nach dem Nationalrat müsste in einer der nächsten Sessionen auch der Ständerat zustimmen.

Wichtiges politisches Signal

Die junge Baselbieter SP-Nationalrätin Marti kämpft seit Jahren beharrlich für die überparteiliche Unterstützung ihrer Initiative. Diese richtet sich gegen eine Gesetzesverschärfung, die 2019 in Kraft getreten ist: Personen ohne Schweizer Pass darf demnach das Aufenthaltsrecht entzogen werden, falls sie «dauerhaft und in erheblichem Mass» auf Sozialhilfe angewiesen sind. Auch kann deswegen eine Niederlassungsbewilligung C auf eine Aufenthaltsbewilligung B zurückgestuft werden. Betroffen von den Massnahmen sind besonders Personen aus sogenannten Drittstaaten, oft alleinerziehende Mütter.

Die Verknüpfung von Migrations- und Sozialhilferecht führte in den letzten drei Jahren zu einer eigentlichen Hatz auf Armutsbetroffene. Sie leben in ständiger Unsicherheit, ob sie die Schweiz verlassen müssen. Mehr noch: Immer mehr Armuts­betroffene trauen sich wegen der Regelung nicht mehr, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Studie der Berner Fachhochschule geht davon aus, dass über 35 Prozent der Menschen, die rechnerisch Anspruch auf Sozial­hilfe hätten, auf diese verzichten (siehe ­«wobei» Nr. 6/21).

«Die Sozialhilfe soll Existenzen sichern, nicht Menschen in Unsicherheit versetzen.»
Samira Marti, SP-Nationalrätin

Die parlamentarische Initiative, hinter der eine Allianz von achtzig sozial- und migra­tions­po­li­ti­schen ­Organisationen steht, will der Armenjagd nun den Riegel schieben: Eine Person, die länger als zehn Jahre in der Schweiz lebt, dürfte nicht mehr ausgewiesen oder zurückgestuft werden, falls sie auf Sozialhilfe angewiesen ist. Ausgenommen von der Regelung wäre der mutwillige, also grobfahrlässig oder mit Absicht herbeigeführte Bezug von Sozialhilfe.

Für den renommierten Zürcher Migrationsanwalt Marc Spescha ist die Lösung zwar nicht perfekt. Er sagt jedoch: «In der Realität sind heute tatsächlich vor allem Personen betroffen, die schon länger als zehn Jahre in der Schweiz leben.» Denn bis Verfahren auf­genommen und Sanktionen verhängt werden, dauert es. Für Spescha wäre eine Annahme der Initiative ein wichtiges politisches Signal: «Das Parlament würde damit die Abwärts­spirale der ständigen Verschärfungen im Sozial- und Migrationsrecht stoppen. Endlich liesse es wieder Augenmass walten.» Der Entscheid wäre auch ein verbindlicher Auftrag an die kantonalen Migrationsämter, von den oft demütigenden Verfahren gegen Armuts­betroffene abzusehen.

«Eine Annahme der Initiative würde einen Paradigmenwechsel in der Diskussion­ über Armut bedeuten», sagt auch Samira Marti. «Jahrzehntelang hat die SVP von Missbrauch und Sozialschmarotzern gesprochen und Armutsbetroffene diskreditiert.» Flankiert wurde die SVP von der FDP: Die Idee der Rückstufung etwa hatte der frühere Parteipräsident Philipp Müller eingebracht. «Nun könnten wir zum Kerngedanken der Sozialhilfe zurückkehren», sagt Marti. «Sie soll Existenzen sichern und nicht Menschen in Unsicherheit versetzen.»

Zurück zum Grundsatz

Marti will die Verknüpfung des Migrations- und des Sozialhilferechts auch an anderen Stellen in der Rechtssetzung hinterfragen: Sie denkt dabei an die Asylsozialhilfe, mit der Geflüchteten die Integration in der Schweiz erschwert wird. Diese soll auf die üblichen Standards angehoben werden. Auch bei den Einbürgerungen stellt der Bezug von Sozialhilfe ein Hindernis dar. In Kantonen wie Bern oder dem Aargau dürfen Personen, die das Schweizer Bürgerrecht erlangen wollen, zehn Jahre keine Sozialhilfe bezogen haben.

Den Handlungsbedarf bei der Sozial­hilfe hat auch die Mitte-Partei erkannt, die das Anliegen unterstützt. Für Mitte-Nationalrat Benjamin Roduit wäre eine Annahme von Martis Vorstoss zwar noch kein Grundsatzentscheid, sehr wohl aber die dringend nötige Korrektur eines Gesetzes, das für einzelne Personen eine fatale Wirkung zeitigt. «Die Drohung der Ausweisung treibt Menschen förmlich in die Klandestinität.» Roduit, der auch Präsident der Artias ist, einer Vereinigung der Westschweizer und Tessiner Sozialinstitutionen, erinnert an die langen Schlangen bei der Abgabe von Lebensmitteln während der Covid-Pandemie. «Darunter waren viele, die sich nicht trauten, Sozialhilfe zu beantragen.»

Roduit erwartet, dass sich die Situation mit den steigenden Energiepreisen und Krankenkassenprämien auf den Winter hin erneut verschärfen wird. «Wir müssen sehr aufmerksam sein, dass nicht die Ärmsten für die Krise bezahlen. Damit sie sich nicht verschulden müssen, braucht es wirksame Unterstützungsangebote.» Ob auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene: Praktische Ideen zur Armuts­bekämpfung werden in naher Zukunft also erst recht gefragt sein.