Steigende Inflation: Parmelins Blockade
Die Schweiz erlebt derzeit eine schleichende Umverteilung nach oben. Doch bis jetzt weigert sich der Wirtschaftsminister, etwas dagegen zu tun.
Europa steht kopf: In Grossbritannien will ausgerechnet Liz Truss, die neue Premierministerin, die die neoliberale Ikone Margaret Thatcher bewundert, die Energiepreise deckeln. Angesichts einer rekordhohen Teuerung nehmen Regierungen vieler Länder Milliarden in die Hand, um die Not der Bevölkerung zu lindern; und eben hat die konservative EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Steuer auf Übergewinne von Energiefirmen gefordert. Und die Schweiz?
Zur Rettung der Axpo war der Bundesrat geradezu gezwungen – der milliardenschwere Energiekonzern ist «too big to fail». Ansonsten sehe man jedoch «keinen Bedarf für sofortige Massnahmen zur Abfederung der gestiegenen Preise», liess Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) kürzlich in einem dürren Communiqué verlauten. Weder für KMUs noch für Privathaushalte. Man «analysiere» die Entwicklungen – und werde im Oktober weiterschauen. Man fühlt sich in den Sommer 2020 zurückversetzt, als der Bundesrat die Coronahilfen auf Druck der Wirtschaftsverbände einfach auslaufen liess, worauf vor allem SP und Grüne monatelang für jede wirtschaftliche Hilfsmassnahme kämpfen mussten.
«Wir erleben ausserordentliche Zeiten, der Bundesrat muss handeln.»
Pirmin Bischof, Mitte-Ständerat
Die Lage ist in der Schweiz derzeit weniger prekär als im Euroraum, wo die Inflation 9,1 Prozent beträgt. Doch auch hierzulande stiegen die Preise im August um 3,5 Prozent. Diejenigen von Benzin, Gas und Heizöl kletterten um 26, 58 beziehungsweise 86 Prozent in die Höhe. Die Strompreise werden 2023 im Schnitt um 26 Prozent steigen – in einigen Gemeinden um ein Mehrfaches. Und auch die Krankenkassenprämien sollen nochmals stark anziehen.
Die sozialen Auswirkungen seien bereits sichtbar, warnt Caritas-Chef Peter Lack: «Seit Mai kaufen immer mehr Menschen in unseren Caritas-Läden ein.» Und auch die Sozialberatungsstellen würden einen Zulauf verzeichnen. «Ohne Hilfsmassnahmen werden wie in der Coronapandemie viele Leute in die Armut abrutschen.» Lack ruft die Politik dringend dazu auf, zu handeln.
Verlierer und Gewinner
Es tobt ein Verteilkampf: Höhere Kosten für Konsument:innen bedeuten in vielen Fällen höhere Gewinne für Konzerne. Rohstoffriesen wie Vitol, Mercuria oder Gunvor, die ihren Sitz in der Schweiz haben, fahren derzeit gigantische Profite ein. Glencore hat den Gewinn fürs erste Halbjahr um rund hundert Prozent auf 19 Milliarden US-Dollar gesteigert. Der Preisüberwacher untersucht derzeit auch die Schweizer Treibstoffbranche – wo Grosse wie Migrol, Agrola oder Shell das Sagen haben – auf überhöhte Gewinne. Und wie Energieministerin Simonetta Sommaruga (SP) bei der Axpo-Rettung klarmachte, blicken auch die Schweizer Stromkonzerne trotz kurzfristiger Liquiditätsengpässe riesigen Gewinnen entgegen.
Dieser Umverteilung nach oben folgt nun die Debatte über die Rückverteilung: Soll die Schweiz wie Grossbritannien einen Preisdeckel einführen? Braucht es eine Steuer auf Übergewinne? Und welche Hilfen sind für Privathaushalte und KMUs nötig? Der Lead läge bei Parmelins Wirtschaftsdepartement: Dieses führt eine Arbeitsgruppe zur Inflation an, der auch Sommarugas Energiedepartement sowie das Finanz- und das Innendepartement angehören und die den Bundesrat berät.
«Parmelin muss jetzt liefern», sagt SP-Nationalrätin Samira Marti. Bisher habe der Bundesrat jedoch alle vorliegenden Ideen abgelehnt. «Die Arbeitsgruppe sagt nur, was alles angeblich nicht umsetzbar sei», ergänzt Mitte-Ständerat Pirmin Bischof. «Wir erleben ausserordentliche Zeiten, der Bundesrat muss handeln.»
Parmelin blockt: Diesen Vorwurf hört man derzeit in Bundesbern immer und immer wieder.
Druck macht auch Sommaruga, die via «Blick» die Debatte über eine Übergewinnsteuer für Stromkonzerne wie Axpo forcierte: Man müsse diskutieren, ob die Konzerne einen Teil der erwarteten Rekordprofite an die Allgemeinheit zurückzahlen sollten, sagte die Energieministerin. SP und Grüne hatten sich in der WOZ bereits im Mai für eine solche Steuer ausgesprochen, worauf auch Mitte-Präsident Gerhard Pfister laut über die Idee nachdachte. Der Chef der Grünen, Balthasar Glättli, hat eben einen entsprechenden Vorstoss eingereicht, in dem er angesichts des Kriegs gegen die Ukraine neben Energie- und Rohstoff- auch Rüstungsfirmen ins Visier nimmt.
Auch Bischof gibt sich offen: «Ich sehe Argumente dafür und dagegen.» Wenn die höheren Preise als Gewinne bei den Konzernen landeten, sei es naheliegend, das Geld zurückzuverteilen – gleichzeitig zweifle er an der Umsetzbarkeit der Steuer. «Die Tür für eine Diskussion darüber steht aber offen», sagt der Mitte-Ständerat. FDP-Chef Thierry Burkart spricht sich erwartungsgemäss gegen eine Übergewinnsteuer aus. Allerdings schrieb selbst er kürzlich auf Twitter, dass die Axpo «allfällige Gewinne aufgrund hoher Strompreise» an die Konsument:innen zurückgeben sollte.
Widerstand von rechts
Bislang kaum Thema sind in der Schweiz Preiskontrollen, wie sie die deutsche Ökonomin Isabella Weber (siehe WOZ Nr. 50/21) Anfang Jahr ins Spiel gebracht hat – und wie sie nebst Deutschland etwa auch Grossbritannien einführen will. Dabei garantiert die öffentliche Hand für Haushalte oder Firmen nötigenfalls einen subventionierten Grundbedarf an Strom, Gas oder Öl zu einem fixierten Preis; der Verbrauch, der diesen Grundbedarf übertrifft, wird zu üblichen Tarifen berappt. SP-Nationalrätin Marti hat einen ähnlichen Vorstoss zur Deckelung der Energienebenkosten für Mieter:innen eingereicht – den der Bundesrat kürzlich aber ebenfalls zur Ablehnung empfahl.
Statt Preiskontrollen fordert der Gewerbeverbandspräsident Fabio Regazzi (Mitte) seit Montag, dass Firmen, die heute auf dem freien Markt Strom einkaufen, in die geschützte Grundversorgung zurückkehren dürfen. Die jährliche Stromrechnung seiner eigenen Rollladenfirma, so Regazzi, könnte von 58 000 auf über 900 000 Franken klettern. Vor dem Hintergrund, dass der Gewerbeverband über Jahre die Liberalisierung des Strommarkts mit vorangetrieben hat und die Firmen auf dem freien Markt über Jahre von tieferen Stromkosten profitiert haben, gibt sich die Linke kritisch – aber offen: «Die Rückkehr in die Grundversorgung darf nicht gratis sein», sagt Grünen-Präsident Glättli. Wie die SP fordert auch seine Partei, dass eine Rückkehr für Firmen an strenge Auflagen geknüpft werde; etwa betreffend Übergangsfrist und Investitionen in Energieeffizienz.
Der Widerstand kommt von rechts: «Wir sind zurückhaltend», sagt FDP-Nationalrat Beat Walti. «Man kann nicht jahrelang von billigen Marktpreisen profitieren und sich dann, sobald sich die Situation verschlechtert, unter den Schutzschirm stellen.» SP-Kopräsidentin Mattea Meyer sagt dagegen: «Wir können diese Firmen nicht dem Schicksal überlassen und zusehen, wie unzählige Arbeitsplätze verloren gehen.»
Auftrag an den Wirtschaftsminister
Vor wenigen Tagen wischte der Bundesrat auch den Vorstoss von SP und Mitte vom Tisch, die AHV-Renten vollständig an die Teuerung anzupassen. Er will die Renten (so wie gesetzlich vorgesehen) nur teilweise der Teuerung anpassen. Das Parlament wird den Vorstoss nächste Woche in einer ausserordentlichen Session zur Teuerung behandeln, die von SP und Mitte durchgesetzt worden ist.
Nichts wissen will der Bundesrat auch vom zweiten Vorstoss, der die Teuerungssession bestimmen wird: zusätzliche Prämienverbilligungen. «Kein Bedarf», schreibt der Bundesrat.
«Ich habe wenig Verständnis für diese Antwort», ärgert sich Mitte-Ständerat Bischof. Der Ständerat, in dem die Linke und die Mitte eine komfortable Mehrheit haben, dürfte die beiden Aufträge an den Bundesrat annehmen – im Nationalrat könnte es jedoch knapp werden: Seine Partei, sagt FDP-Mann Walti, könne sich insbesondere auf kantonaler Ebene Hilfsmassnahmen für Leute mit tiefen Einkommen gut vorstellen – doch die vorliegenden Vorschläge werde man wohl ablehnen. «Wir plädieren für möglichst wenig Markteingriffe», sagt Walti.
Ein Ja zum AHV-Teuerungsausgleich und zu den Prämienverbilligungen wären klare Aufträge an Parmelin – ansonsten ist jedoch vor allem er selbst am Zug. Endlos wird er sich dem steigenden Druck kaum entziehen können.