Digitale Forensik: Der Architekt, der die Spuren sichert

Nr. 38 –

Maksym Rokmaniko dokumentiert mit forensischen Methoden russische Kriegsverbrechen. Die Arbeit hilft ihm, die Schrecken zu verarbeiten.

Das zerstörte Theater in Mariupol in einer Visualisierung des Center for Spatial Technologies
Was ist da genau geschehen? Das zerstörte Theater in Mariupol in einer Visualisierung des Center for Spatial Technologies. © CST

Gerade einmal eine Woche dauerte der Krieg gegen die Ukraine an, als die russische Armee einen besonders symbolträchtigen Angriff lancierte. Am 1.  März schlugen im Zentrum von Kyjiw mehrere Raketen ein: Ein Geschoss traf den grössten Fernsehturm der Stadt, das andere ein Gebäude in unmittelbarer Nähe der Holocaustgedenkstätte Babyn Jar. Auf dem Gelände hatten die Nazis im September 1941 innerhalb von zwei Tagen 33 000 Jüdinnen und Juden ermordet, das zerstörte Gebäude war für ein neues Holocaustmuseum bestimmt. «Was nützt es, achtzig Jahre lang ‹Nie wieder› zu sagen, wenn die Welt schweigt, wenn eine Bombe auf die Stätte von Babyn Jar fällt?», fragte Präsident Wolodimir Selenski in einem Tweet.

«Den TV-Turm konnte ich früher von meinem Fenster aus sehen», sagt Maksym Rokmaniko, während er das entsprechende Foto auf seinem Laptop zeigt. Der 31-Jährige sitzt in der Küche des Zürcher Neumarkt-Theaters und klickt durch eine Präsentation, die er später auf der Konferenz «The Secret Club of Radical Transparency» halten wird. Selenskis Tweet habe ihn und sein Team getriggert: «Wir wollten so genau wie möglich verstehen, was auf dem Gelände von Babyn Jar, das wir in einem früheren Projekt vermessen hatten, passiert ist.»

Neues Wissen generieren

Rokmaniko hat Architektur studiert, aber früh gemerkt, dass er wegen der «politischen Einschränkungen», wie er es nennt, nicht im Beruf arbeiten will. «Bloss jenen zu dienen, die viel Geld haben, um grosse Gebäude zu bauen, hat mich genervt – ich wollte lieber etwas politisch Relevantes machen», sagt er. 2017 gründete er deshalb das interdisziplinäre Recherchebüro Center for Spatial Technologies (CST).

«In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft», wie er sagt, befasste sich das CST ursprünglich mit Themen wie bezahlbarem Wohnraum und Nachhaltigkeit. Eines der ersten Projekte drehte sich um die Frage, wie sich im Kampf gegen die Wohnungsnot eine kollektive Eigentümerschaft von Grundstücken denken lässt. Zusammen mit einem kanadischen Büro entwickelte das Team um Rokmaniko ein Game, in dem die Spielerin gegen Vermieter:innen kämpft, die die ganze Stadt aufkaufen wollen. In einer weiteren Arbeit dokumentierten sie den für eine Wohnungsrenovierung benötigten Materialfluss. «Die Bauwirtschaft ist für einen riesigen CO₂-Ausstoss verantwortlich, wir haben also ein Tool gebaut, das diesen Verbrauch kalkuliert», sagt Rokmaniko.

Maksym Rokmaniko
Maksym Rokmaniko

Mit Babyn Jar kam der CST-Direktor in Berührung, als er zusammen mit dem Holocaust Memorial die Geschichte des Ortes zu untersuchen begann. Sein Team lokalisierte bekannte Bilder und entwickelte ein dreidimensionales Modell des Geländes. Die Idee ihrer Arbeit sei immer die gleiche: Sie nähmen ein räumliches Modell als Ausgangspunkt, dem sie dann über Fotos, Dokumente und andere verfügbare Daten weitere Schichten des Wissens hinzufügten. «In diesem Prozess findest du immer etwas Neues heraus», sagt Rokmaniko. Es gehe nicht bloss darum, die Erinnerung wachzuhalten, sondern auch darum, Wissen zu generieren. Und darum, die Geschichte eines Ortes mit den Ereignissen der Gegenwart zu verknüpfen.

Material für die Gerichte

Der russische Angriff auf die Ukraine hat auch für Rokmaniko alles verändert, er flüchtete aus Kyjiw und legte alle Projekte auf Eis; inzwischen lebt er in Berlin. Fortan nutzte das CST-Team seine Raumanalysen und forensischen Methoden, um russische Kriegsverbrechen zu untersuchen – so wie beim Angriff auf den Fernsehturm, den Rokmaniko gemeinsam mit dem britischen Recherchekollektiv Forensic Architecture rekonstruiert hat.

«Wir wollen die Bedeutung solcher Attacken begreifen», sagt Rokmaniko. Ein TV-Turm etwa versorgt Menschen mit Informationen – und wer im Krieg die Bilder beherrscht, kontrolliert auch das gängige Narrativ. Sollten die Stadtentwicklungsprojekte des CST anfänglich als Grundlage für neue Gesetze und Reformen dienen, so geht es nun auch darum, internationale Gerichte mit Informationen zu versorgen, die bei künftigen Prozessen verwendet werden können.

Rokmaniko will aber auch Geschichten erzählen. Für sein aktuelles Projekt hat das CST über Social Media nach Überlebenden des russischen Angriffs auf das Theater in Mariupol von Mitte März gesucht. 1600 Zivilist:innen hatten sich zeitweise dort versteckt, bis zu 600 sollen bei dem Anschlag gestorben sein. «Das zerstörte Theater ist ein tragisches Symbol von Solidarität, gegenseitiger Unterstützung und Selbstorganisation», sagt der Rechercheur. Inzwischen haben sich über fünfzig Personen gemeldet, Videos zur Verfügung gestellt und von ihrem Schicksal berichtet. Die Arbeit des Kollektivs soll nicht nur die Zerstörung zeigen, sondern auch das Leben im Theater sichtbar machen. Es ist das grösste Projekt, an dem das CST je gearbeitet hat.

Die Recherchen zu den Gräueln des russischen Regimes haben für Rokmaniko indes auch einen therapeutischen Effekt. Sie helfen ihm, besser mit den Schreckensmeldungen umgehen zu können – aber auch die eigenen Schuldgefühle zu verarbeiten, weil er zurzeit nicht in der Ukraine ist. «Den Menschen zuzuhören, ihre Geschichten in unser Archiv aufzunehmen, gibt mir das Gefühl, Teil des kollektiven Kampfes der Ukrainer:innen zu sein.»