Disco Doom: Die Zeit läuft anders
Disco Doom gibt es seit 25 Jahren, aber ein Jubiläum? Hat diese eigenwillige Band nicht nötig: Lieber einfach immer weitergehen, wie jetzt mit dem Album «Mt. Surreal».
Für ein Bier reicht es gerade noch an diesem fast letzten heissen Sommerabend, bevor der Regen kommt, bevor Gabriele De Mario und Anita Rufer weitermüssen, so viel zu tun und so wenig erst gemacht, so kommt es ihnen jedenfalls vor. «Wir sind total im Stress», hatte Rufer am Telefon gesagt, kurz vor der Veröffentlichung des neuen Albums von Disco Doom. Man merkt es den beiden im Gespräch dann gar nicht an, De Mario, der bei jedem Lachen alle Zähne zeigt, und Rufer mit ihren verschmitzten Augen. Jetzt ist das Album seit einer Woche auf der Welt: «Mt. Surreal», am Samstag wird es getauft.
Seit Ewigkeiten spielen De Mario und Rufer zusammen, mindestens aber seit 1997, dem Gründungsjahr von Disco Doom. Dieser Band, die immer wieder aus anderen Leuten besteht, mit den beiden als Herzstück. «Wir sind Freaks», sagen sie, auch in Bezug auf die Zusammenarbeit mit anderen. «Es muss sehr viel stimmen, damit es klappt. Und manchmal muss man eben einsehen, dass es nicht funktioniert.» Aktuell sind es Mathias Vetter und Mario Kummer, die zusammen mit den beiden das Personal stellen, mit ihnen habe letztens sogar mal ein Jam auf der Bühne geklappt, nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit. Disco Doom, eine eigenwillige Band, die vielleicht schon eher ein Gebilde ist. Ein Gewächs wie diese manchmal struppigen Songs, doch immer mit einer klaren Haltung. Die Songs auf «Mt. Surreal» haben De Mario und Rufer geschrieben, wirklich entstanden sind sie aber erst in der Arbeit zu viert. Ein kollaboratives Werk, ein gemeinsames Rhythmusfinden, auch ein wenig ein Durcheinander.
Immer unterwegs sein
25 Jahre, da hätten andere wohl eine Jubiläumstour gemacht oder ein Re-Release, irgendetwas, um zurückzuschauen. Es scheint ihnen gar nicht in den Sinn gekommen zu sein; so zentral das Weitergehen, das Vorwärtskommen. Eine Handvoll Alben und EPs ist in dieser ganzen Zeit erschienen. Vor allem aber haben sie viel gespielt, sind ausgiebig getourt, in der Schweiz, Europa, in den USA, auch als Support für US-Indiebands wie die Breeders oder Built to Spill. Es ist ihnen sowieso das Wichtigste, das Unterwegssein. «Jasagen zum Abenteuer», wie es De Mario ein bisschen pathetisch und ganz ernsthaft formuliert. Klingt alles sehr fliessend, wie sie das erzählen, organisch gewachsen. Normalerweise ist irgendwann fertig mit den alten Songs, ausgespielt, dann braucht es etwas Neues, um wieder damit unterwegs zu sein.
Nach acht Jahren also wieder ein Album. Dazwischen lagen zwei leere Jahre und ein anderes Bandprojekt, J & L Defer, bei dem De Mario und Rufer zu zweit spielen. Aus eigentlich pragmatischen Gründen ist es entstanden, beziehungsweise aus dem Wunsch nach mehr Beweglichkeit: «Wir haben bei Disco Doom damals mit zwei Vätern gespielt, die konnten oder wollten nicht auf Tour sein. Aber wir wollten halt», sagt Rufer.
J & L Defer ist ein wichtiger Ort geworden, um Neues auszuprobieren. 2016 entstand daraus «No Map», ein grossartiges Album. Verspielter und intimer als die Musik von Disco Doom kam es daher, wobei die Freiheit und das Ausprobieren wiederum zu «Mt. Surreal» geführt oder jedenfalls zu dessen Entstehen beigetragen haben. De Mario sagt: «Man merkt den Einfluss schon, ‹Mt. Surreal› fühlt sich für mich sehr nach der Energie von J & L an.» Rufer: «Echt, findest du? Das hab ich mir noch nie überlegt.»
Zu zweit seien sie flexibler, nur schon, was die Tourplanung angeht. Aber auch auf der Bühne oder im Studio: «Wir kennen einander unglaublich gut und können beim Spielen deswegen schnell aufeinander reagieren», sagt De Mario, und dass er bei J & L Defer manchmal gar das Gefühl habe, die Drum Machines reagierten auf sie. «Da bin ich mir nicht so sicher», sagt Rufer, aber ja: «Es passiert viel.» Man hört das auch in den Songs auf «Mt. Surreal»: bei den zögerlichen Gitarrensounds des Titelstücks gleich am Anfang, das erst mit der Zeit den Mut zu finden scheint, ein Song zu werden; im verträumten «Prolog», das so vergnügt durch die Gegend stolpert; oder im nervösen «Patrik», beinahe eine Rauferei zwischen Schlagzeug und Gitarre und all dem Gerät, wo erst die warme Stimme von De Mario ein wenig Zusammenhalt in die Sache bringt.
Der ewige Geheimtipp
Wie ist das, nicht nur die Band, sondern auch das Leben, den Alltag, die Wohnung, das Bett zu teilen? De Mario und Rufer arbeiten seit Jahren als Band zusammen, sie führen aber auch eine Liebesbeziehung. «Wir sind schon brutal zueinander», sagt Rufer, die Hemmschwelle sei eben tiefer, wenn man sich so nah sei. Dafür sei am Ende wirklich alles, was auf dem Album lande, auch wirklich so, wie sie es wollten. «Man traut sich, alles zu sagen. Aber vielleicht könnten wir schon manchmal etwas lieber sein.»
Zusammen sind sie auch älter geworden, älter als die meisten in der Schweizer Musikszene, und haben auch die Zeiten überlebt, in denen man über eine gute Schweizer Band erstaunt war. 2009 erschien auch in der WOZ eine Reportage über Disco Doom, in der diese Verwunderung (und der Stolz) mitschwang: eine Band aus der Schweiz, die mit ganz Grossen in den USA auf Tour geht, und dann sind sie auch noch gut, wow. Seither ist viel passiert, Disco Doom sind geblieben, nicht unbedingt auf dem angestammten Platz. Mit den Jahren ist die Musik, zu Beginn noch recht geradliniger Indierock, offener geworden, verschrobener: Da ist mehr Leere und Luft, mehr Zeit, mehr Dekonstruktion. «Uns ist es wichtig, von Platte zu Platte weiterzukommen», sagt Rufer, und vielleicht sei das mit ein Grund dafür, dass Disco Doom nie so recht durch die Decke gehen wollte: «Für den Durchbruch hätte es mehr Einfachheit gebraucht.»
«Mich hat mal jemand gefragt: Wieso machst du das immer noch, in deinem Alter? Ihr habt es ja nicht geschafft», sagt Rufer. Nicht geschafft, das meint: seid nicht berühmt geworden, nicht reich. «Disco Doom, der ewige Geheimtipp», sagt De Mario und lacht. «Vielleicht sind wir ein bisschen dazwischen geblieben. Wir konnten für die Leute nicht einfach ‹die Indieband› oder ‹die Hardcoreband› oder was weiss ich sein.» Den einen zu hart, den anderen zu sanft, verspielt. Und dann war wieder alles anders.
Lebendig bleiben
«Wir haben eine eigene Zeitrechnung», sagt De Mario und meint damit ihre spezielle Position in der Schweizer Musiklandschaft: schon so lange da, immer ein bisschen verschoben. Was Disco Doom macht, hat wenig mit Trends zu tun, entwickelt sich aber doch immer weiter. Sowieso der Eindruck: Die Zeit läuft anders für Disco Doom, auch auf «Mt. Surreal». So mancher Song auf diesem Album baut sich so unverschämt langsam auf, lässt auf Pointen bis zum Schluss warten, kostet die Verzerrungen genüsslich aus, es ist zum ganz und gar Geduldigwerden.
Einfach immer weiterarbeiten, daran gibt es für De Mario und Rufer nichts zu rütteln. De Mario sagt: «Ich brauche das, mich auf der Bühne preiszugeben. Das Gefühl haben, ich war da, und ich war kurz nackt.» Und Rufer: «Ein Konzert muss mich lebendig halten. Wenn das nicht mehr passiert, höre ich auf.» Das scheint bis jetzt zum Glück nicht der Fall zu sein.
So ein Konzert von Disco Doom: Man wird da in etwas mit hineingezogen, ohne es recht zu merken, man wird durchgeschüttelt, bekommt den Kopf gewaschen, wird wieder ausgespuckt. Von diesen vier, die da einfach in einer Reihe stehen oder sitzen, sich kaum bewegen, keine Miene verziehen. Sie sähen immer so ernst aus auf der Bühne, das hören sie manchmal, verschlossen und fast gänzlich ohne Show. «Uns ist der Sound so wichtig, da bleibt nicht viel Platz, um über die Aussenwirkung nachzudenken», meint Rufer. Viel wichtiger, das Versinken im Spiel.
Plattentaufe mit Leoni Leoni und Windsurfer in: Zürich, Walcheturm, 24. September 2022, 21 Uhr.
Disco Doom: «Mt. Surreal». Exploding in Sound / Defer Records 2022.