Kino: Pfirsichbäume sind keine erneuerbaren Energien
So viel Wut, so viel Liebe: Die katalanische Regisseurin Carla Simón erzählt in ihrem preisgekrönten Spielfilm «Alcarràs» von einer Familie, deren Obstplantage von Solarpanels verdrängt wird.
Immer wieder mal packt ihn die Wut, den Familienvater Quimet Solé – ein vierschrötigerKerl mit Händen, denen man die harte Arbeit ansieht. Etwa wenn er sieht, wie sein jüngerer Bruder Cisco freundlich mit den Arbeitern plaudert, die am Rand des Familiengrundstücks mit dem Aufstellen von Solarpanels beschäftigt sind. Rasend vor Zorn, stürzt er sich dann auf Cisco – und lässt erst von diesem ab, als sein Sohn herbeieilt und ihn wegzieht. Kurz darauf sieht man Quimet, wie er nachts auf eine Leiter steigt und ein an der Fassade seines Hauses montiertes Panel herunterreisst.
Was es mit Quimets Wut auf sich hat, haben bereits die ersten paar Minuten von «Alcarràs» gezeigt: Familie Solé lebt seit über achtzig Jahren in einem Haus auf einem Grundstück in der katalanischen Provinz Lleida. Hier, nicht weit vom Dorf Alcarràs, betreiben die Solés eine grosse Pfirsichplantage. Neben dem Anbau von Weinreben, etwas Getreide und Gemüse bildet diese ihre Einnahmequelle und Lebensgrundlage. Zwar zahlen die Grosshändler immer weniger für die Pfirsiche, doch das Hauptproblem von Familie Solé ist ein anderes: Das Land, das sie bewirtschaften, gehört nicht ihnen, sondern einem Urenkel des Grossgrundbesitzers Pinyol. Quimets Grossvater, der einst beim alten Pinyol als einfacher Landarbeiter angestellt war, hatte diesem während des Bürgerkriegs das Leben gerettet. Zum Dank dafür überliess ihm der Patron nach dem Krieg einen Teil des Landes – allerdings ohne etwas Schriftliches festgehalten zu haben.
Vertrackte Vergangenheit
Als nun Abgesandte des jungen Pinyol aufkreuzen, veranstaltet Quimets Vater eine so verzweifelte wie vergebliche Suche nach dem nicht existenten Dokument. Am Ende des Sommers, wenn ein letztes Mal die Pfirsiche geerntet sind, muss Familie Solé zwar nicht zwingend ihren Hof verlassen – aber sie wird sich von ihrer Plantage trennen müssen. Denn dort, wo jetzt noch Hunderte von Obstbäumen eine im Sommerwind in den verschiedensten Grüntönen wogende Masse bilden und für die Kinder als Spielparadies dienen, soll dereinst ein Wald von Solarpanels stehen.
Regisseurin und Drehbuchautorin Carla Simón zelebriert das aber nicht als Kampf der Kleinen gegen die Übermacht eines entfesselten Kapitals, mit klar gezeichneten Helden und Heldinnen. Der Einbruch der erneuerbaren Energie, die hier in absurder Weise einen traditionellen landwirtschaftlichen Familienbetrieb zerstört, wirbelt vielmehr die gängigen politischen Koordinaten durcheinander. Ähnlich vertrackt verhält es sich mit der Vergangenheit, die in den Erzählungen von Grossvater Rogelio und dessen Schwester lebendig wird. In Katalonien, das während des Bürgerkriegs bis zum Schluss von der Republik gehalten werden konnte und wo Anarchist:innen und andere Sozialrevolutionäre starken Einfluss ausübten, waren tatsächlich viele Grundbesitzer umgebracht worden – ein heikles Kapitel in der traumatischen Geschichte Spaniens, das der Film hier ganz beiläufig antönt.
Casting auf der Demo
Wie schon in ihrem Erstling «Summer 1993» verarbeitet Carla Simón hier in semidokumentarischer Weise auch Autobiografisches. Sie selber ist bei Verwandten auf dem Land aufgewachsen, nachdem sie als Siebenjährige in Barcelona ihre Eltern verlor, weil diese an Aids starben. In «Summer 1993» spiegelte sich ihre Geschichte in der Hauptfigur des Mädchens Frida, das inmitten einer ständig herumtobenden Kinderschar eine Aussenseiterin bleibt. Jetzt, in «Alcarràs», hat sie ihrem Onkel und ihren Tanten, die selbst Pfirsichbauern und -bäuerinnen sind, ein Denkmal gesetzt. Carla Simón kennt die Existenznöte dieser Menschen. Und auch die eingangs erwähnte Wut von Quimet hat durchaus reale Hintergründe: Dessen Darsteller Jordi Pujol Dolcet hat die Regisseurin auf einer Bauerndemo entdeckt. Auch das übrige Ensemble besteht mehrheitlich aus Bauern und Bäuerinnen; allerdings stammen sie alle aus unterschiedlichen Dörfern, die Filmfamilie Solé ist also durch und durch fiktiv.
Dabei sind die Familienverhältnisse zugegebenermassen unübersichtlich, und man hat zu Beginn etwas Mühe, sich zurechtzufinden (der Stammbaum der Solés auf der Rückseite des Flyers zum Film ist da durchaus hilfreich). Nicht weniger als neun erwachsene Personen aus drei Generationen der Familie Solé tragen diesen Ensemblefilm, der, ausgezeichnet mit dem Goldenen Bären in Berlin und nach Grosserfolgen in den spanischen Kinos nun als offizieller Kandidat Spaniens ins Oscar-Rennen geschickt wurde. Aber ganz ähnlich wie in «Summer 1993» lebt auch «Alcarràs» von den ständig herumwuselnden Kindern.
Und deren Spiele wirken hier wie ein Echo dessen, was mit den Erwachsenen geschieht. Etwa wenn die Mädchen zu einem Song mit dem Refrain «I am the Boss» ihre Tanzschritte üben oder als die kleineren Kinder in einer Höhle Krieg spielen und ein Mädchen mit einer Spielzeugpistole herumhantiert und zu einem der Jungen sagt: «Ich habe einen Keller, da füttere ich dich durch, bis der Krieg vorbei ist.»
«Alcarràs». Regie: Carla Simón. Spanien/Italien 2022. Vorpremieren am Zurich Film Festival, siehe www.zff.com. Ab 29. September 2022 im Kino.