«Green Border»: Entscheidet dieser Film die Wahl in Polen?
Der Spielfilm «Green Border» zeigt die Situation von Flüchtenden an der Grenze zu Belarus. Die Regierung in Warschau fährt im Wahlkampf eine aggressive Kampagne gegen Regisseurin Agnieszka Holland – samt unsäglichen Nazivergleichen.
«Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …» Zwei Polinnen sprechen in einer Szene von «Green Border» dieses Gebet, als sie an der Grenze zu Belarus angehalten werden – weil eine der beiden eine Person of Color ist, hat ein Grenzschützer sie aufgefordert, etwas auf Polnisch zu sagen. Der Beamte fahndet nach Flüchtenden entlang der knapp 400 Kilometer langen Grenze zwischen Polen und Belarus.
Auch die beiden Frauen suchen Geflüchtete, aber mit entgegengesetztem Ziel: Sie wollen Hilfe leisten. Sie arbeiten ehrenamtlich in der informell, aber professionell agierenden Organisation Grupa Granica (Grenzgruppe), die Flüchtende mit Nahrung, Kleidung und medizinischer Ersthilfe versorgt – und rechtlichen Beistand bei ihren Anträgen auf internationalen Schutz leistet. Doch ihr Recht auf Prüfung ihres Schutzantrags einzufordern, bleibt für die meisten Flüchtenden Theorie, wie der Film zeigt. Realität sind brutale Pushbacks hinter die belarusische Grenze durch polnische Beamte.
Die Grupa Granica gibt es wirklich. Sie und andere Organisationen haben in den vergangenen zwei Jahren mutmasslich Dutzende Leben gerettet und noch viel mehr Personen zumindest vor den brutalsten Formen der Pushbacks bewahrt. «Wenn Flüchtende auf polnischer Seite aufgegriffen werden, wird zwar ein Teil von ihnen in Aufnahmelager gebracht, und ihre Dokumente werden geprüft», berichtet Kalina Czwarnóg von Ocalenie (Rettung), einer polnischen Stiftung, die sich um Flüchtende kümmert. «Andere aber werden in den Wäldern aufgegriffen und ohne Prüfung und ohne die Annahme ihres Antrags auf internationalen Schutz abgeschoben.» Darunter seien auch unbegleitete Minderjährige, schwangere Frauen und Kranke. «An diesem Vorgehen hat sich in den letzten zwei Jahren nichts geändert», sagt Czwarnóg. «Green Border» zeige sehr realitätsnah, wie brutal der Grenzschutz zum Teil vorgehe.
Hetze von oben
Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) will diese Vorgänge partout nicht dokumentiert sehen. In den vergangenen Wochen haben Regierung und staatliche sowie regierungsnahe Medien eine aggressive Kampagne gegen den Film und die 74-jährige Regisseurin losgetreten. Agnieszka Hollands jüdische Grosseltern väterlicherseits sind einst im Warschauer Ghetto gestorben. Das hinderte den amtierenden Justizminister Zbigniew Ziobro nicht daran, ihren Film jetzt mit «Nazipropaganda» zu vergleichen. PiS-Chef Jarosław Kaczyński seinerseits bezeichnete «Green Border» als «schändlich, abstossend, ekelerregend». Wer den Film nicht verurteile, stehe «auf einer klaren Seite», so Kaczyński: «Das ist die extreme antipolnische Seite.» Am Tag des Kinostarts, dem 22. September, organisierte die Regierung eine «Kette der Unterstützung» für den Grenzschutz in der Region Podlasie.
Zuletzt hatte 2018 der Spielfilm «Kler», der Pädophiliefälle in Polens katholischer Kirche zum Thema hatte, eine ähnliche Erregung im Land ausgelöst. Doch nun ist die Lage noch brisanter: Denn am 15. Oktober stehen Parlamentswahlen an, die PiS kann bislang kaum mit einer eigenständigen Mehrheit rechnen. Weil sozialpolitische Versprechen laut Umfragen nicht ziehen, setzt sie nun ganz und gar auf das Thema Migration, Flucht – und Angst.
Die Krux dabei: Hollands Film könnte der PiS tatsächlich helfen. Denn zum einen hat die PiS in den vergangenen Jahren systematisch antimigrantische Ängste geschürt. Zum anderen zeigt der Film zwar wahrheitsgemäss brutale und gut dokumentierte Pushbacks polnischer Behörden und analog dazu das inhumane Vorgehen aufseiten von Belarus. Doch Grenzbeamte, die einigermassen menschlich agieren, sind in «Green Border» kaum zu sehen, was den Film tatsächlich ein Stück weit angreifbar macht. Der polnische Grenzschutz verurteilte ihn deshalb scharf und wies auf Rettungstaten hin: «Die Grenzschutzbeamten führten seit Beginn des Migrationsdrucks 23 schwierige Rettungsaktionen durch, bei denen sie ihre Gesundheit und ihr Leben riskierten und fast 80 Migranten retteten.»
Agnieszka Holland wiederum bewegte sich angesichts der Hetze gegen ihren Film und ihre Person zuletzt unter Personenschutz im Land. Eine so massive Hasskampagne staatlicher Stellen gegen einen Film und deren Macher:innen habe es noch nie gegeben, sagte Holland. «Sie haben die letzte Grenze überschritten, sie haben ihr wahres Gesicht ohne jede Maske gezeigt.» Dabei will sie die in «Green Border» dargestellte Kritik nicht etwa nur auf Polen gemünzt sehen. Im Film wird vielfach angedeutet, dass die PiS faktisch mit dem stillschweigenden Einverständnis der EU agiert.
Es betrifft die ganze Welt
Anfang September wurde «Green Border» an den Filmfestspielen von Venedig mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Spezialpreis der Jury. Damals sagte Holland: «Vor ein paar Tagen gab es die Nachricht, dass saudische Grenzsoldaten massenhaft auf äthiopische Flüchtlinge schiessen. Wenn das Problem der Fluchtmigration nur Polen betreffen würde, wäre das schrecklich, aber es wäre ein Zivilisationsunfall.» Doch dem sei nicht so, es betreffe die ganze Welt. «Ich habe Angst, dass sie anstelle eines bizarren Zauns an der polnischen Grenze Maschinengewehre aufstellen, die alles niedermähen, was sich dem Zaun nähert. Ich habe Angst, dass Boote im Mittelmeer von Grenzschützern und Frontex nicht ignoriert werden, wie vor einigen Wochen vor der griechischen Küste, sondern bombardiert.»
In Polen indes ruft der Film bei vielen – den Helfenden, aber auch Anwohner:innen der Grenzregion – Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs hervor. Viele Pol:innen versteckten damals flüchtende Juden und Jüdinnen, andere denunzierten sie. Viele, die sich versteckten, lernten katholische Gebete und Bräuche, um bei Razzien unerkannt zu bleiben. Als die beiden Helferinnen in «Green Border» immer eindringlicher das Vaterunser sprechen, hält es der Grenzschützer nicht mehr aus und brüllt sie an, sofort wegzufahren – er sieht sich konfrontiert mit einer Doppelmoral, die kein Alleinstellungsmerkmal Polens ist.
«Green Border» ist als Vorpremiere am Zurich Film Festival zu sehen, Spielzeiten siehe www.zff.com. Kinostart voraussichtlich im Frühling 2024.
Zurich Film Festival : Abseits des Teppichs
Am Zurich Film Festival (ZFF) läuft «Green Border» als Vorpremiere in der Nebensektion «Border Lines», einer Kooperation mit Amnesty International. Auch wenn alle drei Vorstellungen bereits so gut wie ausverkauft sind: Zu verpassen gibt es deswegen nicht viel, denn der Film von Agnieszka Holland wird nächstes Jahr noch regulär in den Schweizer Kinos starten.
Um es etwas überspitzt mit einem alten Witz über ein anderes Festival zu sagen: In Locarno bekommt das Publikum Filme zu sehen, für die es das Jahr hindurch sonst kaum ins Kino gehen würde; das ZFF ist der Ort, wo die Leute gegen Aufpreis Filme schauen, die später sowieso noch ins Kino kommen.
Wer das ganze Gedöns hier ausblenden mag, sucht das ZFF also besser nach Filmen ab, zu denen man so bald kaum mehr Gelegenheit bekommen dürfte. Etwa «Queendom» von Agniia Galdanova, ein schon an verschiedenen Festivals preisgekrönter Dokumentarfilm über einen Performancekünstler aus der russischen Provinz, der als Dragqueen in Moskau unter vollem Körpereinsatz gegen die Queerfeindlichkeit unter Wladimir Putin protestiert. Oder «Cerrar los ojos» von Victor Erice, dem fast vergessenen Altmeister des spanischen Kinos. In seinem ersten langen Film seit über dreissig Jahren spürt er dem Verschwinden eines Schauspielers nach.
Dass der 83-Jährige in Cannes damit nicht in den Wettbewerb eingeladen worden war, sorgte dort für einiges Befremden. Am ZFF läuft der Kritikerliebling jetzt in einer Nebensektion.