Margrith Bigler-Eggenberger (1933–2022): Dicke Haut, langer Atem
Die St. Galler Juristin und Anwältin Margrith Bigler-Eggenberger war nicht nur die erste Bundesrichterin. Vor allem war sie eine überzeugte Feministin und Sozialistin.
Es war ein Spiessrutenlauf. Kaum mehr vorstellbar, was Margrith Bigler-Eggenberger durchmachte, als sie 1974 in Lausanne einzog. Die Bundesversammlung hatte die SP-Kandidatin mit Ach und Krach zur ersten vollamtlichen Richterin am Bundesgericht gewählt. Doch nur wenige Kollegen hiessen sie an dessen Sitz im Park Mon-Repos willkommen. Die meisten ignorierten sie, einige sprachen gar nicht mit ihr. Sie bekam männlichen Dünkel und patriarchalisches Gehabe mit voller Wucht zu spüren.
Aufgewachsen im Industriedorf
Die Wahl der ersten Bundesrichterin erfolgte nur drei Jahre nachdem die Schweizer Männer 1971 das Frauenstimmrecht gutgeheissen hatten. Die Rufe, wonach Frauen an den Herd gehörten und für Politik generell ungeeignet seien, waren kaum verhallt. Bigler-Eggenbergers Einzug ans höchste Gericht war daher ein Durchbruch in der Frauengeschichte. Und eine grosse Genugtuung für sie selbst: Als Aktivistin hatte sie schon seit 1959 für das Frauenstimmrecht auf der Strasse gestanden. Sie habe eine dicke Haut und einen langen Atem gebraucht, sagt ihre Biografin Esther Hörnlimann.
Diese Eigenschaften hatte sich Margrith Bigler-Eggenberger schon früh angeeignet. Ihre weltanschauliche Prägung erhielt sie in einer sozialdemokratischen Familie im Industriedorf Uzwil SG. Hier waren soziale Gerechtigkeit sowie das Engagement für Menschenrechte und die Benachteiligten dieser Gesellschaft selbstverständlich. Ihr Vater war der Politiker Mathias Eggenberger. Ihm war 1971 das Kunststück gelungen, als SP-Mann im konservativen Kanton St. Gallen Ständerat zu werden. Die Tochter absolvierte ein Rechtsstudium und schrieb eine Dissertation über die Resozialisierung von Straftäter:innen, bevor sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die soziale Benachteiligung von Frauen legte.
Natürlich hatte sie diese auch am eigenen Leib erfahren. So arbeitete sie während des Studiums als Hilfsarbeiterin in einer Telefonfabrik, Stundenlohn: ein Franken. Und als Gerichtsschreiberin an einem Berner Bezirksgericht war sie sogar umsonst tätig. Zwangsweise. Ihr Mann verdiene ja genug, hiess es. Ihr Mann, das war der Lehrer und Humanist Kurt Bigler, ein 1942 in die Schweiz geflüchteter Überlebender des Holocaust, der später viele Jahre am Lehrerseminar Rorschach wirkte. Bigler-Eggenbergers eigentliche Karriere als Juristin begann Mitte der sechziger Jahre in St. Gallen, wo sie ans Sozialversicherungsgericht gewählt wurde. Bald war sie auch eine der ersten Dozentinnen an der Hochschule St. Gallen (HSG). Hier legte sie den Grundstein für ihre Karriere als Expertin für Sozialversicherungsrecht und Gleichstellungsfragen.
Freisinnige Verleumdungskampagne
In jenen Jahren mussten Frauen, die sich für die Sache der Frauen ins Zeug legten, auf alles gefasst sein. Auch Bigler-Eggenbergers Wahl ans Bundesgericht war von einer antifeministischen Verleumdungskampagne begleitet. Man unterstellte ihr, sie mache nur dank ihres Vaters Karriere. Das freisinnige «St. Galler Tagblatt» zweifelte ihre fachliche Kompetenz an, nur weil sie eine Frau und eine Linke war. Die Kandidatur fürs Bundesgericht musste sie auch zu Hause gegen die Bedenken ihres Ehemanns durchsetzen. «Ich wollte einfach das tun, was für mich richtig und wichtig war», erinnerte sie sich später an diesen Kampf an mehreren Fronten.
Einmal im Amt, setzte die während siebzehn Jahren einzige Frau am höchsten Schweizer Gericht bald juristische Wegmarken. Die Frauenhistorikerin Elisabeth Joris hat sie aufgelistet. Bigler-Eggenbergers erster Fall in Lausanne, damals noch als Ersatzrichterin, betraf eine Beschwerde aus Zürich: Prostituierte wehrten sich gegen die Abdrängung in ein abgelegenes Fabrikareal. Mit dem Argument, auch für «Dirnen» gelte die Handels- und Gewerbefreiheit, setzte sie die faktische Anerkennung des horizontalen Gewerbes als Berufstätigkeit durch. Später wirkte sie an einem Urteil mit, das ein Anrecht auf Lohn für Haushaltsarbeit anerkannte. Zudem drängte sie in Scheidungsurteilen darauf, dass die soziale Absicherung von Hausfrauen zu berücksichtigen sei – Pionierarbeit für das spätere Scheidungsrecht. Als ein Höhepunkt ihrer Karriere gilt der erste Lohngleichheitsprozess aus dem Jahr 1977: Eine Neuenburger Lehrerin klagte wegen Lohndiskriminierung und erhielt in Lausanne recht.
Bis ins hohe Alter forderte die unermüdliche Kämpferin eine «sehende Justitia», die nicht blind gegen Ungleichheit und Diskriminierung sei. Und ihr Aktivistinnenherz ruhte auch nach dem beruflichen Rückzug nicht. Sie förderte die feministische Rechtswissenschaft nach Kräften und lehrte diese weiterhin als Dozentin an der HSG. Zudem rief sie einen Fonds für Weiterbildung und einen zur Sensibilisierung für das Holocaustgedenken ins Leben. Am Montag, 5. September, hörte das Herz der Feministin und Sozialistin Margrith Bigler-Eggenberger im Alter von 89 Jahren in St. Gallen auf zu schlagen. Bis zum Schluss dachte sie an die Menschen auf der Schattenseite des Lebens. Für Trauerspenden bat sie, das Frauenhaus St. Gallen sowie das Solidaritätshaus für Flüchtlinge zu berücksichtigen.