Aufstand im Iran: «Mina! Sag ihnen, wir erwarten Solidarität»

Nr. 39 –

Die mutigen Proteste im Iran sind ein Kampf gegen staatliche Femizide, die Hidschabpflicht und das gesamte patriarchale System. Sie sind ein historischer Moment.

Bereits seit mehr als einer Woche halten die landesweiten Proteste im Iran an. Ausgelöst durch den Tod der 22-jährigen Zhina (Mahsa) Amini, die am 13. September von der Moralpolizei in Teheran verhaftet worden war – wegen Verstoss gegen die Kopfbedeckungspflicht. Bereits wenige Stunden nach ihrer Festnahme lag sie wegen einer Hirnblutung im Spital, wo sie am Freitag, dem 16. September, verstarb.

An der Beerdigung von Zhina Amini ist etwas passiert, was in der iranischen Geschichte einzigartig ist. Die Frauen und weiblich gelesenen Personen haben kollektiv ihre Kopftücher abgenommen und Parolen gerufen: «Morden für ein Kopftuch? Wie lange werden wir noch so entwürdigt?» Die dabeistehenden Männer haben sie unterstützt. Es war diese Aktion, die unglaublich rasch eine landesweite Protestwelle nach sich zog.

Zhina Aminis Tod war ein staatlicher Femizid. Die erbitterten Protesten, die seither nicht zur Ruhe kommen, richten sich gegen den Mord, gegen das gesamte System und seine patriarchale Geschlechterordnung.

Brennende Hidschabs

Seitdem zirkulieren in den sozialen Medien Hunderte Bilder und Videos, die die Wut der Demonstrant:innen zeigen: «Zhina Amini, das war Mord!» und «Die Mullahs müssen weg!», rufen sie. Frauen, die Strassenkämpfe anführen und ihre Hidschabs verbrennen; Frauen und LGBTIQ-Personen, die ihre Haare abschneiden und sich gegen die Polizeikräfte zur Wehr setzen.

Angefangen haben die Proteste im kurdischen Teil des Iran beziehungsweise in dem Teil Kurdistans, der offiziell zum Iran gehört. Zhina Amini hiess offiziell Mahsa Amini, weil der iranische Staat Kurd:innen nicht erlaubt, kurdisch klingende Namen für ihre Kinder auszusuchen. Aminis Familie hat für die Proteste eine sehr wichtige Rolle gespielt. Ihr Bruder, der am Tag der Verhaftung mit Zhina unterwegs war, hat die Ereignisse öffentlich gemacht. Schon kurz nach ihrem Tod hat die kurdische Zivilgesellschaft zu Protesten und Streiks aufgerufen.

50 Prozent der Studierenden sind Frauen, aber nur 18 Prozent der Frauen haben eine Arbeit.

Es ist das erste Mal, dass die iranische Öffentlichkeit einen staatlichen Mord wahrnimmt – und sich das ganze Land darüber empört. Menschen in 122 Städten haben sich bis jetzt dem feministischen Aufstand angeschlossen. In mehreren Städten ist es dabei zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und der Polizei gekommen. Die Behörden sprechen von über 1200 Verhafteten. Bis anhin gibt es Meldungen von über 70 Getöteten. Seit dem 23. September wird der Zugang zum Internet stark eingeschränkt. In einigen Städten herrscht ein kompletter militärischer Ausnahmezustand. Dennoch weiten sich die Proteste auf immer weitere Städte aus.

Aufruf zum Generalstreik

Es melden sich Prominente zu Wort. Zahlreiche Schauspieler:innen haben bereits ihr Kopftuch abgelegt und angekündigt, dass sie unter den herrschenden Gesetzen im Iran nicht mehr arbeiten werden. Selbst wenn dies bedeuten würde, dass sie deswegen von der Bildfläche verschwinden.

«Wir werden diese Woche ohne Kopftücher zur Schule gehen», heisst es in einem Statement, das eine Initiative von Schülerinnen veröffentlicht hat. «Die Jungs können uns unterstützen, indem sie an ihrer Schule unsere Parolen rufen.» Es gibt verschiedene Aufrufe zu Streiks, und auch die Forderung nach einem Generalstreik wird immer lauter. Akademiker:innen melden sich zu Wort und verlangen von den Universitätsprofessor:innen, sich ebenfalls den Protesten anzuschliessen. Die Empörung der Menschen beginnt sich politisch zu formieren.

 

 

Es ist die Empörung darüber, wie einfach es sich das Regime macht, wenn es Frauen wegen der Kopftuchpflicht verhaftet, foltert, ermordet – und sich dann mit der Behauptung rausreden will, es sei ein «spontanes Herzversagen» gewesen. So, wie die Behörden auch den Tod von Zhina Amini darzustellen versuchten. Es ist die Empörung darüber, dass extra eine Moralpolizei gegründet wurde, um gegen Menschen wegen der Art und Weise, wie sie sich kleiden, vorzugehen, sie festzunehmen, zu Peitschenhieben zu verurteilen. Es ist die Empörung darüber, dass diese Ungerechtigkeit nur deswegen über vierzig Jahre hinweg normalisiert werden konnte, weil der Staat sie mit aller Gewalt durchsetzte. Diese ganze Empörung fand nun eine Möglichkeit, sich politisch auszudrücken.

So schnell sich die Proteste ausgebreitet haben, so unvorbereitet trafen sie das Regime. Es hat die Lage komplett unterschätzt.

Die Behörden haben erst mal Zeit gebraucht, um ihre Repressionseinheiten aufzustellen und sich aktuelle Strategien für die Niederschlagung der Proteste zurechtzulegen. Den Zugang zum Internet bei Protesten zu blockieren, ist ein strategisches Vorgehen: Das tat die Regierung bereits im November 2019, um gegen die rapide eskalierenden Proteste gegen Preiserhöhungen vorzugehen. Damals ermordeten die Sicherheitskräfte in den darauffolgenden Tagen bis zu 1500 Menschen.

Um mit Menschen im Ausland in Kontakt zu bleiben, versuchen Iranerinnen und Iraner derzeit, die digitalen Einschränkungen zu umgehen. Die Internetrestriktionen haben zwar die Informationsketten stark verlangsamt, aber nicht komplett stillgelegt. So melden sich unsere Freund:innen noch immer bei uns Iraner:innen im Exil, fordern uns auf, ihre Stimme zu sein.

«Mina! Ich weiss, es ist schwierig, trotz der Abschaltung des Internets weiterhin unsere Stimme zu sein. Aber die Welt muss unsere Situation sehr ernst nehmen. Wir kämpfen und bringen Opfer dafür, dass sich etwas verändert. Sag ihnen, dass wir ihre Solidarität erwarten. Ohne internationale Unterstützung schaffen wir es nicht. Die Mullahs haben das Ziel, auch dieses Mal ein grosses Massaker zu begehen», so klingt die verzweifelte, aber zugleich machtvolle Stimme einer Freundin im Iran. Alle paar Stunden versucht sie sich bei mir zu melden, um Informationen auszutauschen.

Ideologische Ungleichheit

Die religiöse Diktatur im Iran wurde auf vielen bereits existierenden gesellschaftlichen Spaltungen aufgebaut, und sie hat diese Gräben gezielt und systematisch weiter vertieft, um ihre Macht zu festigen: religiöse Spaltung, ethnische Spaltung, politische und wirtschaftliche Ungleichheiten. Die Geschichte der Islamischen Republik zeugt von politischen und religiösen Säuberungen, ethnischer Unterdrückung – insbesondere in kurdischen und arabisch bewohnten Gebieten –, Verfolgung von Intellektuellen und Künstler:innen. Die politischen Rechte und die Meinungsfreiheit sind stark eingeschränkt.

Doch der wichtigste Bestandteil der staatlichen Ideologie ist die tief verankerte und systematische Ungleichheit der Geschlechter, die sich mitunter durch die Zwangsverschleierung ausdrückt. Schon kurz nach der Revolution von 1979 hat der religiöse Führer Ajatollah Chomeini die Pflicht zum Tragen des Hidschabs befohlen.

Es ist essenziell zu verstehen, dass das Regime durch die sexuelle Kontrolle der Frauen und weiblich gelesenen Personen eine absolut binäre Geschlechtertrennung gewaltsam durchsetzt. Es gibt Schulen für Mädchen und Schulen für Jungen. Trans Personen werden stigmatisiert und pathologisiert, und der freie Ausdruck von Genderidentitäten wird durch den – ebenfalls binären – Hidschabzwang kriminalisiert. Kinder, die als weiblich gelesen werden, müssen bereits im Alter von sieben Jahren eine Kopfbedeckung tragen.

Das Familiensystem ist nicht nur heteronormativ, sondern verbietet gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen. Frauen und weiblich gelesene Menschen werden durch diese Gesetze möglichst aus dem öffentlichen Raum entfernt. Sie dürfen nicht ohne die Erlaubnis männlicher Familienmitglieder heiraten – und werden entsprechend oft zu Ehen gezwungen, die sie nicht wollen. Gerade auch viele aus der LGBTIQ-Gemeinschaft.

Hinzu kommt, dass Frauen und weiblich gelesene Menschen ohne die Erlaubnis der «für sie zuständigen Männer» das Land nicht verlassen oder in einer anderen Stadt studieren dürfen. Nur 18 Prozent der iranischen Frauen haben eine Arbeit. Und dies, obwohl 50 Prozent der Studierenden Frauen sind.

Ein Angriff auf das ganze System

Mit seiner patriarchalen Geschlechterordnung hat der Staat letztlich die sexuelle Kontrolle der ganzen Gesellschaft für sich in Anspruch genommen. Um diese Kontrolle durchzusetzen, gründete die religiöse Diktatur unterschiedliche polizeiliche Einheiten, deren Aufgabe ausschliesslich darin besteht, zu überwachen, wer welche Kleidung trägt, wer mit wem schläft und wer zu wem in welcher Beziehung steht. In den Schulen, in den Universitäten und allen staatlichen Behörden gibt es eine polizeiliche Kontrolle namens «Harasat» oder «Enzebat», die sich lediglich damit beschäftigt, wer diese Geschlechterordnung infrage stellt. Und für dieses «Vergehen» werden Menschen aus der Schule verwiesen, verlieren ihren Studien- oder Arbeitsplatz.

Viele Kunstformen sind fast unmöglich geworden: Tanz und Theater sind verboten sowie auch das Singen – für weiblich gelesene Stimmen.

Es ist ein System der «Gender Apartheid». Daher ist es wichtig anzuerkennen: Die Proteste gegen die Hidschabpflicht im Iran greifen das gesamte politische System an. Der Hidschabzwang ist nicht das Gesicht der iranischen Gesellschaft. Doch die religiöse Diktatur will es seit Jahrzehnten so darstellen. Damit die patriarchale Unterdrückung der Gesellschaft nach aussen hin normalisiert und als Kultur abgetan wird und der iranische Staat ohne internationalen Druck die komplette Gesellschaft kontrollieren kann.

Die aktuelle Protestwelle im Iran ist ein historischer Moment. Denn auch wenn der Staat nun versucht, sie mit aller Gewalt zu zerschlagen – sein eigenes ideologisches Gesicht in der Welt ist zerfallen. Das ist der Anfang vom Ende.

Mina Khani ist iranische Publizistin und Feministin. Sie lebt in Berlin.

Internationale Reaktionen auf die Proteste : Die Worthülsen des EDA

Normalerweise unterscheiden sich offizielle Stellungnahmen westlicher Staaten zu gewalttätigen Menschenrechtsverletzungen nur geringfügig. In Bezug auf die aktuelle Lage im Iran ist das nicht so, wie eine Gegenüberstellung der Statements aus der Schweiz und der EU verdeutlicht:

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) schreibt, es verfolge die aktuellen Entwicklungen im Iran sehr genau. Und zu Beginn dieser Woche habe «die Schweiz im Rahmen des UN-Menschenrechtsrates eine rasche, unparteiische und unabhängige Untersuchung zum Fall Mahsa Amini gefordert und die iranischen Behörden zu Zurückhaltung gegenüber den friedlich Demonstrierenden und zu einem Ende der Internet-Restriktionen aufgerufen». Weiter werde sich das EDA bilateral und multilateral für den Schutz der Menschenrechte im Iran einsetzen.

Demgegenüber schrieb der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell am Sonntag: «Für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten ist der weitverbreitete und unverhältnismässige Einsatz von Gewalt gegen friedlich Demonstrierende nicht zu rechtfertigen und inakzeptabel.» Die EU erwarte daher, dass der Iran die gewaltsame Niederschlagung der Proteste unverzüglich einstelle und den Internetzugang sowie den freien Informationsfluss gewährleiste. Weiter brachte Borrell mögliche Sanktionen ein: Die EU prüfe weiterhin alle ihr zur Verfügung stehenden Optionen, um auf die Tötung von Mahsa Amini und die Art und Weise, wie die iranischen Sicherheitskräfte mit den anschliessenden Demonstrationen umgegangen seien, zu reagieren. Die USA wiederum haben gemäss dem nationalen Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden bereits «konkrete Schritte» unternommen, um die Moralpolizei zu sanktionieren und den Iraner:innen den Zugang zum Internet zu erleichtern.

Die sehr zurückhaltende Position des von Ignazio Cassis (FDP) geführten EDA hat die grüne Nationalrätin Sibel Arslan derart «befremdet», dass sie am gestrigen Mittwoch eine parlamentarische Interpellation einreichte – gemeinsam mit Vertreterinnen von SP, GLP, Mitte, EVP und FDP. Darin stellen sie die Frage, warum die Schweiz «den Iran nicht öffentlich in einer klaren Sprache, wie dies auch gegenüber Russland der Fall war, verurteilt». Ausserdem wollen sie wissen, welche Massnahmen die Schweiz ergreife, um den Iran zur Einhaltung der Menschenrechte zu bewegen. Zu den Unterzeichnerinnen der Interpellation gehört auch die FDP-Nationalrätin Doris Fiala, die gegenüber der WOZ sagt: «Es ist gut, zu realisieren, dass Frauen für Frauen gemeinsam einstehen, und das über Partei- und unsere Schweizer Grenze hinaus. Die Rechte der Frauen im Iran werden heute teilweise mit Füssen getreten. Wir Frauen setzen daher ein Zeichen in Bundesbern. Gleichgültigkeit wäre unwürdig.»

Auch aus der Zivilgesellschaft regt sich Widerstand gegen die gewaltsame Unterdrückung der Proteste im Iran – und die Zurückhaltung der Schweiz: Am kommenden Samstag ist auf der Rathausbrücke in Zürich eine Kundgebung geplant, die von in der Schweiz lebenden Iraner:innen organisiert wird.